| 
        
          | 2  Was dann kam, weiß ich nicht mehr so genau. Sicherlich habe ich mit der Pfanne
  zugeschlagen. Aber nur mit der flachen Unterseite, und auch nicht an den Kopf, sondern nur
  - platsch - auf den Rücken, als sich Frau Müller - oder wie immer diese Frau heißt -
  herumdrehte im Begriff, mir ihre Rückseite zuzuwenden, um mir nicht nur ihre Verachtung
  zu beweisen, sondern mit dem beabsichtigten Schließen der Tür das sprichwörtliche
  Tür-vor-den-Kopf-Knallen nachhaltig und nachhallend zu demonstrieren. Ich nenne das
  Notwehr.  Warum aber diese Jacke mit den langen Ärmeln, die man über Kreuz auf dem Rücken
  zusammenbindet? Wie gesagt: Genau erinnere ich mich nicht. Der ganze Frust brach hervor.
  Ein schriller Schrei entfuhr dem haifischzahnbesetzten, weit aufgerissenen Maul dieser
  Frau Müller. Die Pupillen der Augen im sich mir langsam, aber stetig zuwendenden Kopf
  weiteten sich auf erschreckende Weise. Es war fast zu befürchten, dass die blöden Augen
  aus dem Kopf springen könnten, um möglicherweise auf dem Fußboden des Flures hupfend
  und springend ein Eigenleben zu beginnen. Und dazu dieser nie enden wollende Schrei!
  Nachbarn stürzten sich in den Hausflur, als hätten sie nur auf diesen Schrei als Aufruf
  zur Verübung der Schandtaten gewartet, Schandtaten die ich über meinen Körper ergehen
  lassen musste. Ich wurde förmlich niedergemacht.  Weshalb ich in dieser Zwangsjacke landete, frage ich mich noch heute. Aber
  wahrscheinlich schien es den Helfern in den weißen Kitteln angebrachter, mich in eine
  solche zu verfrachten, als die Horde wildgewordener Anwohner. Ganz nach dem demokratischen
  Prinzip: Die Mehrheit hat immer Recht! Gleichzeitig hatte das eine Beruhigungswirkung,
  denn man sah mich gewissermaßen gut versorgt und kalt gestellt. Der eine oder andere
  meinte zwar noch, mir den einen oder anderen Tritt verpassen zu müssen, aber ansonsten
  ließ man von mir ab. Man führte mich tragend ab, denn durch alles war ich mehr
  ohnmächtig als bei Bewusstsein.  So entkam ich zwar der aufgepeitschten Ansammlung menschlicher Wracks, diesem
  blökendem Gesindel und dieser Herde debiler Hornochsen; dafür landete ich aber in den
  fürsorglichen Armen einer stattlich-staatlichen Nervenheilanstalt, die sich nach außen
  als normales Krankenhaus ausgibt, von allem aber einfach als Klapsmühle oder Irrenanstalt
  anerkannt ist. Ich also ein Irrer!  Die Wunden, die man mir schlug, sind verheilt. Aber meiner Freiheit, wenn es auch nur
  eine sehr eingeschränkte war, bin ich vollends beraubt. Ich sitze ein, wie man wohl sagt.
  Und in meiner Wohnung verstauben die Bratfischpfannen, setzen Rost an, verrotten gar oder
  werden im Großstadtdschungel wenigstens von wildem Gewächs überwuchert.  Kein Weg nach außen ist mir offen. Man hat mich zunächst mit Beruhigungspillen
  vollgestopft. Wahrscheinlich fürchtet man weitere Ausbrüche noch schlimmerer Art von
  mir. Damit kann und will ich nicht dienen. Ich will nur meine Angelegenheiten regeln.
  Meinem Bezirksleiter erklären, dass ich zur Zeit unpässlich bin, überhaupt verhindert,
  die mir anvertrauten Bratfischpfannen in den ökonomischen Kreislauf zu bringen. Man
  lässt mich nicht. Um meinem von den Pillen vernebelten Kopf kreisen weißbekittelte
  Männlein und Weibchen, die mir gut zureden und zu erklären versuchen, dass sich meine
  Angelegenheiten schon wie von allein regeln werden. Wo bin ich nur gelandet? Ach ja, im
  Irrenhaus! Ich bin schließlich nicht der ehemalige Bundeskanzler! Bei dem mögen sich die
  Dinge wie von allein erledigen haben, nicht so bei mir. Die kennen alle meinen
  Bezirksleiter nicht.  Wenn ich schön artig bin - wieso artig, bin ich ein Säugling? -, dann spricht auch
  der Herr Doktor mit mir. Denn irgendwie traut man mit zu, wieder auf dem Weg der Besserung
  zu kommen. Und so ganz verrucht, wie es zunächst schien, erscheine ich am Ende gar nicht
  zu sein. Der Bratpfannenschläger hat auch seine guten Seite. Er ist doch ein ganz
  patenter Typ, der gern den dritten Mann zum Skat stellt, mit dem man vielleicht eines
  Tages auch Pferde stehlen kann. Aber wer braucht heute noch ein Pferd.  So reduzierte man eines baldigen Tages meine Dosis an Beruhigungsmitteln, und der Herr
  Doktor nahm sich meiner an. Zunächst fragte er scheinbar ganz unbefangen nach den
  Umständen meines Lebens, was ich so mache, welche Vorlieben ich habe und wie es mir so
  bisher im Leben ging. Mich wunderte es, dass er sich keine Notizen zu machen anschickte.
  Ich hatte auch nirgendwo in seinem Zimmer Akten oder ähnliches entdecken können. Als ich
  aber einmal nach einem Gespräch nochmals ins Behandlungszimmer zurückkam, weil ich etwas
  liegen gelassen hatte, da saß er wie gebannt über meiner Akte und kritzelte wie besessen
  seine Notizen - ganz offensichtlich von unserem gemeinsamen Gespräch - aufs Papier
  nieder. Ich nahm meinen Kram und verließ auf leisen Sohlen den Raum. Ich denke er hat
  nichts gemerkt.  Dann kamen bald schon die gezielteren Fragen. Es mir gleich klar, dass er sich
  irgendwie einen Spickzettel mit Fragen zurecht gelegt haben musste. Denn bei den vielen
  Patienten, die er zu betreuen hatte, konnte er unmöglich alle Krankengeschichten im Kopf
  haben. Ich beantwortete seine Fragen nach gutem Wissen und Gewissen und versuchte
  herauszufinden, wo er seine Notizen versteckt hält. Ich wollte es nicht glauben, aber
  wirklich wie ein kleiner Schulbube, der eine Klausur schreibt, hatte er sich die Notizen
  auf die Handfläche seiner linken Hand geschrieben. Aufgefallen ist es mir an einem
  heißen Tag, als er sich eben mit der linken, leicht schwitzigen Hand am Ohr kratze, das
  plötzlich einen blass-blauen Farbton bekam.  Und zu den gezielten Fragen kamen bald Fangfragen, die mir signalisierten, dass er mir
  nicht alles glaubte, was ich ihm erzählte. Ich machte mir bald einen Sport daraus, ihn
  hinters Licht zu führen. Welchen anderen Sport sollte ich auch betreiben, war es mir
  weiterhin nicht vergönnt, die Anstalt von außen zu sehen. Wie im Gefängnis gab es zwar
  eine Art Innenhof, der war aber eben an allen vier Seiten durch Gebäude umzingelt, sodass
  ein Entkommen nicht möglich war.  So wurde die Gespräche mit dem Herrn Doktor für mich zunehmend interessanter. Es ging
  langsam ans Eingemachte. Er wollte wissen, mit wie viel Jahren ich begann zu masturbieren.
  Vor allem interessierte es ihm, welche Techniken ich dabei benutzte. Natürlich fragte er
  mich dann auch, ob ich auch jetzt noch der Selbstbefriedigung frönte. Ich dachte mir
  für ihn ganz raffinierte Handhabungen aus und konnte mich im Laufe der Zeit des Eindrucks
  nicht erwehren, dass er diese stilistischen Übungen an sich selbst erprobte. Er machte
  von Tag zu Tag einen matteren Eindruck auf mich. Als er eines Tages mit einem dicken
  Pflaster auf der Stirn zu einem unserer Termine kam, da war es eindeutig: Er hatte meine
  Kopfstand-Tischkanten-Methode ausgeübt!  Natürlich interessierte er sich für alle meine Frauengeschichten. Und da ich nicht
  wollte, dass er mich als Wichser abtut, habe ich ihm sehr Delikates aus meiner sexuellen
  Biographie erzählt. Vieles war rein erdichtet. Vieles zog ich aus der einschlägigen
  Literatur, die ich genossen hatte, die hier allerdings nicht zu haben war. Der Geifer lief
  ihm jedesmal aus dem Maul. Und der Eindruck täuschte nicht: Ich wurde zu seinem
  Lieblingspatienten!  Nicht immer war ich so gut drauf, nicht immer fielen mir die richtigen Erzählungen
  ein. So beschränkte ich mich aufs variieren. Aber auch das hatte seinen Reiz und ließ
  Spielchen wie das folgende zu: Hatte ich mit A die praktische Übung X betrieben, mit B
  dagegen die Methode Y angewandt, so ging ich jetzt mit A nach Y vor, während ich mit B
  die Behandlungsweise X probierte. Was zuvor mit A auf X-Art noch Schwierigkeiten
  bereitete, dass wurde so mit B zum Hochgenuss. Der Herr Doktor verstand vollkommen. Es
  kommt eben auch auf die Zutaten drauf an, und übt man X aus, so braucht man schon das
  Zubehör und das Beiwerk, das wohl nur B zu liefern im Stande ist.  Der Herr Doktor geriet mehr und mehr in Schweiß. So kam es immer öfter vor, dass er
  mitten in einer Sitzung von seinem Sitz aufsprang, zur Tür sprang und diese unpassend
  für dieses Haus, nämlich krachend zuschlug. Draußen vernahm ich dann meist ein Poltern
  und das Gekreisch einer Krankenschwestern. Und nach kurzer Zeit stand er - sichtlich
  befriedigt - in der Tür, die Haare zerzaust, den Kittel zuknöpfend, soweit die Knöpfe
  nicht abgerissen waren.  Natürlich war es für mich ein großer Spaß. Aber wie so oft wird aus Spaß schnell
  Ernst. Auch mich überkam ein gewisser Drang, den ich nicht länger zu unterdrücken im
  Stande war. Krankenschwestern haben schon ein einfühlsames Gemüt. Mit viel Seele und
  erstaunlichem Temperament ging die Schwester mit dem etwas prosaischen Namen Gisela ans
  Werk. Es gab da einen Raum, eher ein Kabuff, der wohl eigens für diese Zwecke
  eingerichtet war. Ob der Herr Doktor auch von dieser Räumlichkeit Gebrauch machte, weiß
  ich nicht. Das Zimmerchen war ein Schlauch mit einem Bett. Einem Krankenbett wie meines,
  in dem ich des Nachts schlief. Gleich hinter der Tür war dann lediglich noch ein
  Waschbecken. Ansonsten war kein Möbel in dem Raum. Das Bett war nicht mit Bettwäsche
  ausgestattet. Dafür lag aber eines dieser äußerst saugfähigen Einwegbettlaken, wie sie
  eben in Arztsprechzimmern benutzt werden, auf dem Bett. Hier fand also etliche Drangsal
  seine Sättigung und Erfüllung.  Schwester Gisela war sicherlich keine Schönheit. Eher wirkte sie etwas
  angestaubt und ihr Parfum war Chloroform. Aber in der Not frisst der Teufel Fliegen.
  Immerhin erkannte ich schnell, dass Schwester Gisela gewissen Praktiken nicht abgeneigt
  gegenüber stand. Und ich stellte auch bald fest, dass sie die mit mir ausgeübten
  Vorgehensweisen anderweitig erlernt haben musste. Der Herr Doktor ist also ein gelehriger
  Schüler. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          | 3  Neben mir gab es selbstverständlich noch andere Patienten, die, nachdem ich von ihren
  Krankengeschichten gehört hatte, sicherlich doppelten Grund hatten, hier in der Anstalt
  zu verweilen. So nach und nach lernte ich sie kennen, und es war mehr als unterhaltsam,
  ihnen zu lauschen, denn ihre Lebenswege waren doch sehr verschlungen. Es war in diesem
  Hause Sitte, jedem eine Art Spitznamen zu geben. Ich hatte sehr bald den Namen
  Pfannenschläger weg.  Ein etwas verschlossener Typ war ein ziemlich zivilisiert hereinblickender junger Mann,
  den man das Opfer  nannte. Ich hatte bereits von ihm in der Zeitung gelesen. Er hatte
  vor ungefähr einem Viertel Jahr seine Frau, den Vater von ihr und deren Freundin
  erschossen. Da er zum Tathergang keine klare Ausgabe zu machen im Stande schien,
  vor allem
  aber wegen des fehlenden Tatmotivs, hatte man ihn zur psychiatrischen Untersuchung in
  diese Anstalt gesteckt. Auch hier schwieg er sich zu dem Motiv weiterhin aus oder redete
  ziemlich abstruses Zeug. Sonst machte er einen eher lockeren Eindruck, so als wäre er
  höchstens Besucher denn Patient in diesem Hause.  Soviel konnte ich dann aber doch aus ihm herauslocken. Überhaupt war er wohl mir
  gegenüber weitaus redseliger als gegenüber Polizei und Ärzteschaft.  Das Opfer also lernte im Krankenhaus, wo er sich den Blinddarm entfernen ließ, eine
  junge Krankenschwester namens Annique kennen. Beide verliebten sich ineinander. Das Opfer,
  ein intellektueller und dabei durchaus talentierter Schriftsteller, bisher aber ohne
  größere Veröffentlichungen, so hauptberuflich als Buchhändler tätig, wagte es nicht,
  seine Liebe zu offenbaren.  Wie so manche Literaten litt er unsäglich an
  hochgradiger Schüchternheit. Annique aber, ebenfalls eher scheu, bekannte sich sehr bald
  zu ihrer Liebe zum Opfer. Beide erlebten dann wohl eine wunderschöne Zeit, allerdings
  ohne geschlechtlichen Verkehr, da Annique - beide planten zu heiraten - jungfräulich in
  die Ehe gehen wollte, wie sie wenigstens behauptete. Die Beziehung war mithin das, was man
  eine romatisch-traumhafte zu nennen pflegt. So ganz mag das zwar nicht in unsere Zeit
  passen, aber es soll ja solche Typen geben, die durch die Liebe im Hirn vernebelt ab der
  Gürtellinie taub werden. Wie auch immer.  Da eröffnete unsere kleine Krankenschwester eines Tages unserem Opfer, dass sie eine
  gemütskranke Freundin hätte, die sie im Krankenhaus nach einem Selbstmordversuch
  kennen gelernt hatte. Diese, ihr Name war Asta, hätte einen schwerreichen Vater, der u.a.
  als Mäzen für Künstler auftrete, zudem eine umfangreiche Bibliothek besitze, die er,
  das Opfer, wenn er es nur wolle, ordnen, katalogisieren usw. könne.  Annique wollte ihn nun partout dazu bringen, dieses Mädchen zu heiraten, damit er
  finanziell unabhängig wäre, um sich voll und ganz seinen schriftstellerischen Arbeiten
  widmen zu können. Sie wusste um seine liebevolle Zärtlichkeit (gerade die Schüchternen
  sind meist die besten Liebhaber), die er auch Asta gegenüber zeigen würde, zumal er und
  Asta charakterlich sehr verwandt scheinen, wie sie meine. Auch das Opfer neigte zu
  Schwermut, zeigte sich bisher recht labil.  Sie, Annique, behauptete, dass er sich, hätte er Asta vor ihr
  kennen gelernt, mit
  Sicherheit in diese verliebt hätte. Aus Liebe zu ihm gönne sie ihm diese Chance, zumal
  ihr auch das Glück von Asta sehr am Herzen läge.  Unser wehmütige Literat wehrte sich natürlich vehement gegen diese Anmaßung, war
  aber doch neugierig auf Asta geworden, beteuerte aber, allein sie, Annique, und keine
  andere über alles zu lieben und auf das Geld und die damit verbundene Unabhängigkeit zu
  verzichten. Sie ließ das Thema vorerst ruhen. Dann wurden er und Annique zu Asta und
  deren Vater eingeladen. Asta, voller Liebreiz, was immer das auch sein mochte, bekundete
  gleich von Anfang an, und das im Grunde unverhohlen, ihr großes Interesse an dem
  schüchternen Schreiberling, wenn sie sich auch in ihren Worten zurückhaltend äußerte.
  Unser Freund merkte es aber - oh, Wunder - und konnte sich aller vorherigen Beteuerungen
  zum Trotz dem Liebreiz nicht ganz entziehen. Trotzdem bestand er darauf, Asta nicht
  wiederzusehen, weil er eben nur Annique liebe und sich gegen ihre Pläne zur Wehr zu
  setzen trachtete.  Um es kurz zu rekapitulieren: X trifft A. Beide verlieben sich und wollen heiraten. X
  hatte eine Blinddarmoperation. So schont A als tätige Krankenschwester X. Blinddarmwunde
  und Sex vertragen sich nicht, noch nicht. Aber A kennt auch S, die lebensmüde ist. Und
  was liegt näher als der Wunsch As, dass X die S heiraten soll. Klar? Solche Art von
  Logik verdient, im Irrenhaus behandelt zu werden. Aber weiter:  Es entstand ein Schriftverkehr zwischen Annique, der Krankenschwester, und Asta, der
  Schwermütigen, indem diese ihrer Zuneigung zu unserem Opfer Luft machte, allerdings
  einsah, dass er und Annique wohl zusammengehören wie das Salz und das Meer, dass sie sich
  hier nicht einmischen wolle usw. Annique erzählte unserem Helden von diesen Briefen und
  erinnerte ihn daran, dass Asta gefährdet sei, ja, dass sie aus "Liebeskummer"
  u.U. eine Dummheit begehen könne.  Es kam dann, wie es kommen musste. Unser Held wurde das Opfer, indem er sich opferte
  und den Liebesdienst antrat, um Asta zu heiraten. Immerhin hatte er nun tatsächlich die
  Freiheiten, um schriftstellerisch zu arbeiten. Der Job als Bibliothekar in der
  schwiegerväterlichen Büchersammlung sicherte ihn seine weitere Existenz, war dabei alles
  andere als stressig und zeitraubend. Aber er bekam nichts zustande. Irgendwie war er
  innerlich blockiert. Asta war zwar ganz nett und verständnisvoll zu ihm. Aller Schwermut
  schien von ihr gefallen zu sein. Also kein Gedanke an Selbstmord und ähnlichem. Aber dem
  Opfer gelang es einfach nicht, schriftstellerisch zu arbeiten. Er musste immer wieder an
  Annique denken. Wenn er sie sah, packte es ihn, das große Begehren, geradezu.  Aber er wollte sich selbst keine Blöße geben und hielt an seine neue Rolle als
  Ehegatte fest, ohne sich von den außerehelichen Verlockerungen verführen zu lassen. Aber
  so ganz bekam er es dann wohl doch nicht unter Kontrolle. Wenn man an die eine Frau denkt
  und soll mit einer anderen schlafen, dann haut das meistens nicht hin. So versagte er in
  der Hochzeitsnacht, was Asta als nicht so schlimm akzeptierte. Er bat sie um Bedenkzeit,
  was sie verstand und eher gelassen hinnahm.  Innerlich war unser verhinderter Schreiberling aber fest entschlossen, sich Asta
  gegenüber zu verweigern. Sein ganzes Verlangen galt Annique, aber die inneren Skrupel
  hielten ihn von Annique zurück. Diese war aber ihm gegenüber ganz offen. Ganz
  unverhohlen machte sie ihm Avancen und stellte sich für ein Schäferstündchen bereit. Er
  hatte aber Angst, dass er mit einer einmal begonnenen Affäre Asta im wahrsten Sinne des
  Wortes tödlich verletzten könnte. In diesem Hin und Her wurde er im Inneren zerrüttet,
  sodass er mit seinen Gefühlen auf der einen Seite und seinen sich selbst auferlegten
  Verpflichtungen ganz schön auf den Hund kam.  Wie sollte es auch sonst sein in diesem Irrsinnsspiel: Asta drohte ganz offen mit ihrem
  Tod, falls sie erfahren sollte, dass er ein Abenteuer mit Annique habe, dass er seinen
  Schlägel in ihren Schaft gesteckt haben sollte. Diese aber lockte verstärkt mit ihren
  Reizen. Er könne alles mit ihr machen, was sein Herz sich ersehnt. Und Asta tyrannisierte
  ihn mit ihren Drohungen. Die begonnenen Arbeiten in der Bibliothek des Schwiegervaters vernachlässigte er
  zunehmend. Überhaupt ging er ihm aus dem Weg, da dieser ihn geradezu penetrant mit seiner
  wiederholten Frage nach Nachkommenschaft/Erben nervtötend tyrannisierte.  Unser Opfer war nun wirklich zum Opfer geworden. Er wand sich von allem immer mehr ab,
  zermarterte sein Gehirn, konnte aber seine Lage nicht begreifen. Alle drei (Annique, Asta
  und der Schwiegervater) bedrängten ihn mit ihren Fragen, Drohungen und Verlockungen. A.
  brach nervlich zusammen, er war den Anforderungen nicht mehr gewachsen ...  Natürlich kann man am Ende die Frage stellen, wessen Opfer er geworden war. Sicherlich
  spielten seine eigenen Gelüste, aber auch Skrupel, eine nicht unwesentliche Rolle. Er
  schien aber auch ganz beabsichtigt in diese Rolle des Opfers gedrängt worden zu sein.
  Manche Mitglieder bestimmter gesellschaftlicher Schichten machen sich gern solche Scherze
  mit anderen, besonders sensibel veranlagten Naturen. Diese Spielart von Psychoterrror
  gehört zur Freizeitgestaltung.  Das ernste Ende des Spiels kam auf jeden Fall dann bald. Vom Ergebnis können wir in
  den Tageszeitungen nachschlagen und lesen. Wie es tatsächlich war, weiß nur das Opfer
  selbst. Aber soviel habe ich dann doch in Erfahrung gebracht: Annique, Asta und ihr Vater
  saßen zusammen beim Essen und prosteten sich zu. Es schien, dass sie einen Sieg zu feiern
  hätten. Da trat ganz still und leise unser Mann mit einer Pistole in der Hand auf. Er
  hörte noch Sprachfetzen, die ganz offensichtlich die Verhöhnung seiner Person zum Inhalt
  hatten. Es fiel auch das Wort vom psychologischen Krieg, der gewonnen war. Irgendwie kam
  dann sein großer Monolog im hamlet'schen Sinne. Irgendwie faselte er von Liebe und
  Liebesschwüren und all dem Zeug, dass wohl an dieser Stelle in einer solchen Situation zu
  sagen ist. Dann erschoss er die drei entsetzt Hereinblickenden.  Er rief dann gleich die Polizei an, um sich als Täter zu stellen. Nach ersten
  polizeilichen Untersuchungen zur Tat, zum Tathergang und vor allem zur Vorgeschichte und
  damit zum Motiv der Tat, nach nur wenigen Tagen in Untersuchungshaft hat man ihn nach hier
  verfrachtet. Der Polizei war alles völlig unklar. Das Motiv war nicht ausfindig zu machen;
  dazu schwieg sich der Täter beharrlich aus, oder er redete absurder Zeug. Ansonsten
  machte er, wie bereits erwähnt, dem ermittelnden Kommissar gegenüber einen eher
  vernünftigen Eindruck. Aber da kann man sich eben täuschen. Somit die Unterbringung zur
  weiteren Untersuchung im Irrenhaus.  Da die Polizei bisher so dämlich war und nicht verstand, den wahren Hintergrund der
  Tat aufzudecken, musste es ihr allerdings äußerst absurd erscheinen, was unser Meister
  dazu zu sagen hatte. Mit gegenüber äußerte er sich ähnlich abwegig. Im Zusammenhang
  aber mit seiner Geschichte, die ich nun ja kenne, ist es weitaus weniger aberwitzig,
  berücksichtigt man dabei auch noch zusätzlich die etwas spinnernde Denkweise des
  Probanden.  Danach hat er sich von allen dreien befreit, nimmt auch noch Schuld auf
  sich (was sollte der Tod dreier Menschen beim Täter auch bewirken), um in den freien,
  unschuldigen und reinen Raum eintreten zu können (er meint damit aber hoffentlich nicht
  dieses Irrenhaus). Zuvor lebte er allerdings in einer unfreien, eben schuldigen und
  unreinen Umgebung. Dabei machte er sich selbst aber nicht schuldig. Durch den
  Rundumschlag, womit er dann allerdings sich auch schuldig machte, kam er von der
  Ausschweifung, dem Sündenbabel, das wohl Annique verkörperte, kam er vom göttlichen
  Strafgericht (Asta) und der gespielten Sittsamkeit, der bürgerlichen Konvention eines
  Schwiegervaters los. Die Tat also als Befreiung (auch wenn er jetzt einsitzt). So
  befremdlich das klingt, ich finde es durchaus einleuchtend. Aber ich sitze ja wohl doch
  nicht umsonst als Patient in dieser Anstalt. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          |  4  Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, dass man so freundlich zu mir ist. So langsam
  hat man sich wohl von der Ungefährlichkeit meiner Person und der charakterlichen Stärke,
  die ich nun einmal strotzend ausstrahle, überzeugt. Das heißt natürlich noch lange
  nicht, dass man meine Entlassungspapiere zu unterschreiben bereit ist. Noch zahlt die
  Krankenkasse, noch ist ein belegtes Krankenhausbett ein einträgliches Geschäft. Aber
  für mich stellt sich schon die Frage nach meiner Zukunft. Als Handelsvertreter weiter zu
  arbeiten, kann ich wohl vergessen. So dachte ich zumindest, bis, ja bis mich eines
  schönen Tages mein Bezirksleiter mit Blumentopf und besten Empfehlungen der Direktion
  besuchen kam. Ich wusste gar nicht, dass er so freundlich sein kann. Natürlich hatte er
  seine Absichten oder besser: Die Direktion hatte ihre Absichten, die er mir gegenüber
  vertreten sollte. Irgendwie hatte die gute Frau Müller nicht nur Strafanzeige wegen
  Körperverletzung gegen mich erstattet, sondern war dabei, einen Schadenersatzprozess
  gegen die Firma anzuleiern, die mich nun einmal in unverantwortbarer Weise angestellt
  hatte.  Meinem Bezirksvertreter war dabei sicherlich recht mulmig zumute, zumal er nicht
  wusste, was der Firma am besten dienen konnte. Wenn ich wirklich dauerhaft plem-plem wäre
  oder einfach nur einen Ausraster hatte. So lief der ganze Besuch unter dem Motto
  Sondierungsgespräch ab. Man erkundigte sich nach meinem Befinden. Man fragte nach, was
  man für mich am besten tun könne. Man war besorgt. Man war guter Dinge, dass ich bald
  wieder auf dem Damm wäre. Man wolle alles für mich tun. Man würde schon eine Regelung
  zu aller Zufriedenheit finden. Man, man, man ... Man, oh, man!  Ich kam mir vor, als wolle man mir etwas andrehen. Vielleicht eine Bratfischpfanne. Ich
  ließ ihn zappeln. Jetzt war die Gelegenheit gekommen, einmal ihn wie eine Marionette
  hängen zu lassen. Sollte er mir beweisen, wie gut er seine Sache gelernt hatte. Na,
  taugen Ihre Lehrsätze wirklich etwas? Beweisen Sie mir einmal, wie gut sie im Stande
  sind, Überzeugungsarbeit zu leisten:  · Lehrsatz eins: Die Verkaufsstrategie ist wichtiger als das Produkt! Da man Dich zu
  mir geschickt hat, muss allein das Produkt schon sehr wichtig sein. · Lehrsatz zwei: Aller Anfang ist schwer; ist der geschafft, so läuft der Rest von
  selbst! Da helfen Blumen wenig.
 · Lehrsatz drei: Überzeugung tut Not! Das müsstest Du doch draufhaben.
 · Lehrsatz vier: Frisch gewagt ist halb gewonnen! Wisch Dir erst einmal den Schweiß aus
  dem Gesicht.
 · Lehrsatz fünf: Zeit ist Geld; wer sich keine Zeit nimmt, der nimmt auch kein Geld ein!
  Zeit haben wir. Fehlt nur noch das Geld.
 · Lehrsatz sechs: Das angebotene Produkt als einmalig darstellen! Richtig, das ist meine
  Chance.
 Da hilft nur eine Gegenstrategie, etwa wie die folgende: · Zu eins: Das Produkt muss schon sein Geld wert sein; da hilft kein so freundliches
  Gerede
 · Zu zwei: Nicht nur der Anfang ist schwer; dann wenn Du denkst, Du hast es geschafft,
  wird es besonders schwer!
 · Zu drei: Selbst drei Elefanten überzeugen mich nicht; selbst geschenkt ist noch zu
  teuer!
 · Zu vier: Frisch gewagt ist halb gewonnen, aber auch halb verloren!
 · Zu fünf: Auch meine Zeit ist Geld. Ich höre schon das Geld klimpern!
 · Zu sechs: Alles oder nichts ist einmalig; wenn Du denkst, Du kannst etwas von mir
  wollen, so liegst Du falsch; ich will was von Dir!
 Zunächst dankte ich ihm ganz artig für seinen Besuch. Statt Blumen hätte ich
  allerdings einen Sack Pralinen, und eine Stange Zigaretten wäre auch nicht schlecht,
  sagte ich ihm. Er guckte irritiert. Dann gab ich ihm gleich auf, auch die Herren
  Direktoren von mir zu grüßen, wenn auch unbekannterweise. Aber die werden mich ja
  noch kennen lernen! Er guckte noch irritierter.  Dann erkundigte ich mich nach seinem Befinden und dem Befinden meiner werten Kollegen.
  Oh, allen ginge es gut, und ihm ginge es auch nicht schlecht, obwohl und naja und sowieso.
  Ja, Herr Bezirksleiter, das Leben ist hart.  Zuletzt konnte ich mir nicht verkneifen nachzufragen, wie es mit dem Verkauf der
  Bratfischpfannen stände. Die Antwort war ziemlich ausweichend, wie ich fand. Ich hatte
  aber den Eindruck, als liefe es nicht so berauschend. Und überhaupt wollte man wohl bald
  auf andere Produkte umsatteln.  Ich ließ ihn also zunächst einmal auflaufen. Sein anfängliches Mulmigsein sollte
  durch erweiterte Irritation verstärkt sein. Als er wohl noch einen Anlauf machen wollte,
  um zu einer halbwegs befriedigenden Antwort seiner Fragen und die der Direktoren zu
  kommen, gab ich ihm einfach die Hand, sagte ihm, dass ich jetzt einen Termin bei meinem
  Onkel Doktor hätte, drückte ihm den Pflanzentopf in die Hand mit den besten Empfehlungen
  von mir an Frau Müller, sie hätte Trost und Beistand nötiger als ich, ich, der sich so
  unritterlich an ihr vergangen hätte - und verabschiedete mich.  In der Türe drehte ich mich noch einmal um, sagte: Sie kommen doch
  sicherlich wieder. Ich brauche Sie. Ohne Sie habe ich keinen! und verließ den Raum.
  Und ob er wiederkommt. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          |  5  Unter all den Ent- und Verrückten, zumindest Halbverrückten, gab es einen schon etwas
  betagteren Herren, den man die eingelegte Gurke nannte. Ich dachte mir gleich, dass der
  Name von seiner magisch-manisch zu nennenden Vorliebe für sauer Eingemachtes stammte. Der
  eigentliche Ursprung war dann aber in der Lektüre eines Buchs von Jean Giraudoux mit dem
  Titel Die Auserwählten zu finden, so erzählte mir zumindest mein Anstaltsarzt, der Herr
  Doktor, der auch die eingelegte Gurke therapeutisch behandelte, als ich ihn einmal fragte.
  Zum Inhalt des Buchs kann ich nicht viel sagen; die Anstaltsbibliothek hat es nicht in
  ihrem Verzeichnis. Die eingelegte Gurke wollte sich dazu auch nicht äußern, vorerst
  zumindest nicht. Ich fand dann aber in einem Aufsatz von Jean-Paul Sartre in dem Buch Der
  Mensch und die Dinge den folgenden Abschnitt, der vielleicht zur Klärung beitragen
  könnte:   ... Das Buch (Die Auserwählten von Giraudoux) besteht aus Ruhepunkten. Ein Glas
  mit eingelegten Gurken ist nicht der zufällige äußere Aspekt, den ein Wirbel von Atomen
  annimmt, sondern ein Ruhepunkt, eine über sich geschlossene Form; ...  Viel sagt das nicht aus. Aber da schon Sartre im Spiel ist, muss es sich um etwas
  Philosophisches handeln, also um Fragen nach Sinn und Zweck des Lebens. Was hat aber eine
  saure Gurke mit der Sinnfrage zu tun? Man bedenke: Wir befinden uns im Irrenhaus! Trotzdem
  wollte ich es genauer wissen, zumal ich davon ausgehe, dass z.B. Sartre nicht ins
  Irrenhaus gekommen ist, er aber trotzdem von besagten Gurken zu schreiben wagte. Es muss
  etwas dran sein: Sinn und Gurke!  Spontan entsann ich mich, dass gerade schwangere Frauen oft merkwürdige Vorlieben
  entwickeln, wenn auch nur zeitweise. Dazu gehört immer wieder die Vorliebe für saure
  Gurken. Wir kommen also hier einen kleinen Schritt weiter: Entstehung des Lebens und
  Gurke! Und außerdem sollten sich Schwangere schon etwas mehr schonen, des Kindes wegen.
  Von einem Glas sauer eingelegter Gurken scheint eine beruhigende Wirkung auszugehen
  (Sartre spricht ja von Ruhepunkt). Was mag der Grund sein?  Gurken sind grün. Wir umgeben uns gern mit Grünem, in erster Linie Pflanzen. Ein
  Zimmer, in dem viel Grünzeug steht, hat bestimmt etwas Anheimelnderes als jeder andere
  Raum. Mit Grünem holen wir uns die Natur ins Haus. Gurken sind nicht nur grün, sondern
  gehören darüber hinaus auch zur Flora (vielleicht sollte man sich in sein Zimmer jede
  Menge Gläser mit sauren Gurken stellen). Zudem sind sie sauer eingelegt, also in Essig.
  Mit Essig wird ganz allgemein auf umweltfreundliche Art gereinigt (besonders Fliesen
  eignen sich hierfür). Mithin geht vom Essiggeruch eine Wirkung aus, die
  Sauberkeit,
  Reinheit, ja eine gewisse Unschuld vermittelt. Damit also auch wieder der Hinweis auf Ruhe
  und Entspannung. Aber Sartre geht noch weiter und schreibt vom Glas Gurken als eine über
  sich geschlossene Form. Man beachte dabei das Wort über.  Über das über bzw. über das Über-sich-geschlossen-Sein lässt sich sagen, dass das
  Glas oben eine Öffnung hat, die mit einem Deckel verschlossen ist. Das gebietet der
  schnellen Verderbnis Einhalt. Allerdings unterbindet der Verschluss auch das Ausströmen
  des Essiggeruchs, die Verwirbelung der Atome, um mit Sartre zu sprechen, also der
  essigsauren Moleküle, was die Suggestion von Sauberkeit usw. beeinträchtigt, wenn nicht
  gar unterbindet (auch wenn sich in einem Glas zu den Gurken in unserer Vorstellung aus
  unserem Wissen heraus Essigwasser gesellt).  Unter geschlossener Form ist aber noch etwas anderes zu verstehen. Es geht um eine
  Form, also um etwas Äußeres, das bestimmte Konturen besitzt, die als geschlossen zu
  gelten haben. Geschlossen ist etwas, wenn es gewissermaßen fest, zusammen, ja eigentlich
  nicht zugänglich im Sinne vielleicht von unabänderbar ist. Ungangssprachlich fallen mir
  da Begriffe wie zu oder alle (alle balle Hühnerkralle!) ein. Zu bedeutet aber nicht nur
  geschlossen, sondern als Präposition, also Verhältniswort, verweist es in eine Richtung,
  ist also richtungsweisend. Und als Vorsilbe umschließt es viele Eigenschaften (zusammen,
  zugehörig usw.). Das Wort alle stammt von alles und ist somit ein Begriff des Ewigen.
  Eine geschlossene Form ist etwas Endgültiges oder auch etwas Ursprüngliches. Die
  geschlossene Form als Urform. Als Urbild. Mithin das Archetypische.  Mit diesen Überlegungen versuchte ich mit der eingelegten Gurke in ein Gespräch zu
  kommen. Wie so häufig saß er im Aufenthaltsraum schmatzend über ein Glas Gurken, hatte
  gerade die letzte Gurke mit Zeigefinger und Daumen der linken Hand aus dem Glas
  herausgefischt, die Gurke zunächst abgelutscht, indem er sie in Gänze im Mund
  verschwinden, sie dann aber mit einem Blopp herausfahren ließ, knabberte nun in kleinen
  Bisschen an ihr herum, um sie am Ende mit einem kräftigen Schluck Essigwasser direkt aus
  dem Glas getrunken herunterzuspülen. Er belutschte noch schnell seine Finger. Ein
  Rülpser beendet das Mahl.  Bei dem Anblick, das mir mein Gegenüber bot, verblasste das Ruhe, Sauberkeit und
  Reinheit vermittelnde Bild der Gurken meines Nachdenkens. Mir fiel nichts mehr ein. Ich
  fragte nur noch: Schmeckt s! und bekam zur Antwort: Es hat geschmeckt!  Welch logische Konsequenz! Er hat gegessen, also hat es bereits geschmeckt und kann
  nicht mehr schmecken (hatte er nicht aufgestoßen, dann muss es ihm doch sauer hoch
  gekommen sein - also: muss es ihm auch jetzt eigentlich noch schmecken; oder munden ihm
  die Gurken etwa nicht; isst er sie nur deshalb, um seine philosophischen Ansichten
  buchstäblich in sich hineinzustopfen? Deshalb auch sein ausdauerndes Schweigen? Hat er
  überhaupt irgendwelche Ansichten philosophischer Art? Ist er vielleicht nicht doch nur
  ein kleiner, alter, abgedrehter und abgewichster Spinner, der zurecht im Irrenhaus
  einsitzt?).  Ich unternahm einen letzten Versuch, Anlauf und: Die Welt kennt keine ... Wirkung eines
  vorhergehenden Zustands, zitierte ich Sartre aus dem erwähnten Artikel. Aus essigsauren
  Augen tröpfelten dem alten Wicht leise Tränen.  Der Zustand definiert sich aus Form und Inhalt, wagte ich nicht zu hören.
  Aber doch: Er spricht! Er kaut nicht nur auf Gurken, nein, die eingelegte Gurke spricht
  mit mir, wenn auch noch ganz leise und räuspernd. Dann wurde seine Sprache von Augenblick
  zu Augenblick klarer und klarer, fast so klar wie seine Gedanken: Die Form bildet
  das Äußere. Sie ist das Gepräge, die Machart, also Hülle, oder um es im menschlichen
  Sinne auszudrücken: Sie ist Haut! Als Muster mit ihr eigenen Konturen stellt sie das
  Urbild dar. Sie ist Urform, Grundmodell, also Archetyp und letztendlich Ideal, um den
  Inhalt aufzunehmen. Der Inhalt ist das Innere. Als Füllung der Form ist es Gehalt und
  gibt ihr Substanz. Es ist Kern!  Was die Wirkung anbelangt, so kennen wir die Wirkung aus der Ursache heraus. Keine
  Wirkung, die nicht ursächlich ist. Dabei ist die Ursache der Grund, also der Nährboden,
  der als Wirkung Einfluss nimmt. Wie Ursache und Wirkung sich gegenüberstehen, so ist
  Anlass und Anziehungskraft in Verkörperung von Reiz und Verlockung ein Paar - oder
  Antrieb und Atmosphäre.  Ein Zustand als Form und Inhalt kann ursächlich bewirkt werden, wodurch sich die Form
  oder der Inhalt oder beides verändern. Ein neuer Zustand entsteht. Den Zustand vor diesem
  Zustand, also der alte, beschreibt man als den vorhergehenden Zustand. Nur zur
  Wiederholung: Die Wirkung, die den vorhergehenden Zustand in den neuen verändert hat, ist
  ausgelöst durch eine Ursache, z.B. durch dritte entfacht. Es stellt sich an dieser Stelle
  die Frage, wer oder was Ursache ist, die bewirkt. Kann es ein Zustand als Form und Inhalt
  selbst sein?  Wenn ja, dann geht von einem Zustand Wirkung aus. Durch Ursache. Wenn nein, dann ist
  der Satz: Die Welt kennt keine Wirkung eines vorhergehenden Zustands Unsinn. Bejahen wir
  also die Frage. Und nichts spricht dem entgegen (Der Mensch als Zustand bewirkt
  ursächlich, z.B. indem er Anlass zu Auswirkungen ist oder indem sein Antrieb Kräfte
  freisetzt). Die Welt ist Zustand. Ein Zustand, der sich fortlaufend ändert. Wird die
  ursächliche Wirkung, die den vorhergehenden Zustand in einen neuen Zustand ändert, nicht
  erkannt, was der besagte Satz andersherum beinhaltet, dann kennt der Zustand sich als
  vorhergehender Zustand nicht. Oder auf den Satz bezogen: Die Welt kennt sich nicht im
  vorhergehendem Zustand. Die Wirkung, die zur Änderung führte, wird nicht als
  verändernde, somit erneuernde Kraft erfasst. Die Welt kennt nicht die Welt, kennt keine
  Wirkung, die die Welt verändert, kennt letztendlich sich selbst nicht als neue Welt, als
  neuer Zustand, der durch wirkende Ursache den neuen Zustand bedingt. Usw.  Und so weiter. Ich ging schnell ein neues Glas eingelegter Gurken holen. Stellte sie
  ihm auf seinen Platz. Begierig stürzte er sich darauf, knackte gekonnt den Verschluss,
  hob den Deckel an, angelte sich die erste Gurke, um sie zuerst ablutschend, dann mit
  spitzen Zähnchen kauend zu verspeisen. Eine zweite, dritte Gurke schob er in gleicher
  Weise nach. Mit vollem Mund vernahm ich noch:  Was wir brauchen, sind zeitlose Formen, in die wir die ursprünglich erhaltene
  Substanz, die von diesem Zustand erhalten ist, gießen können. Nur so kann der unendliche
  Kreislauf von Ursache und Wirkung aufgehoben werden. Sagen Sie nicht, das wäre Starre,
  Versteinerung! Oh, nein! Die Substanz, also der Kern allem, ist nicht aus Stein. Wie
  sollte er sonst in die Form passen, wenn nicht gegossen. Und Gießen heißt Fließen! Gut,
  Fließen wird durch Kräfte verursacht, ist also Wirkung. Aber es ist die letzte, sagen
  wir ruhig: göttliche bewirkende Ursächlichkeit! Was dann kommt ist die Rückkehr zum
  Ursprung. Die Urform, das Ideal, als Archetypus birgt die göttliche Füllung. Wir
  bräuchten keinen Grund mehr, der Reize ausübt. Alles glättet sich gewissermaßen. Der
  Urzustand ist erreicht. Es gibt keinen vorhergehenden Zustand mehr, der wirkt. Alle
  Ursache und Wirkung, ich wiederhole es gern, ist aufgehoben! Glauben Sie mir!  Jetzt wusste ich, weshalb er hier war. Mir klangen die Ohren. Wie gut,
  dass auch ich in Behandlung war. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          |  6  Es hat schon was - ein solcher Aufenthalt in einem Irrenhaus. Die Leute, denen man hier
  begegnet, sind weitaus interessanter als die, die man sonst auf der Straße trifft. Durch
  meine Arbeit als Handelsvertreter bin ich Typen begegnet, die es an Skurrilität
  sicherlich
  mit meinen Leidensgenossen hier im Hause aufnehmen können. Aber so pur und somit
  unverdünnt bekommt man die Absonderlichkeiten menschlichen Seins nur hier serviert.  Wovon ich aber jetzt zu vermelden habe, ist eine Geschichte, eine im wahrsten Sinne des
  Wortes lüsternd-schaurige Mordsgeschichte, die mir ein hoch in den Jahren stehendes
  Männlein erzählte und die sich etwa um die Jahrhundertwende, also um 1900, ereignet
  haben soll. Es ist die Lebensgeschichte eines seiner Verwandten, ein Onkel oder so, ich
  kenne mich mit den Verwandtschaftsverhältnissen nicht so aus (es war wohl der Sohn einer
  Tante seiner Großmutter), und ist wirklich so schauerlich-schön erzählt von diesem
  runzeligen Opa, sodass ich sie fast wortwörtlich wiederzugeben versuche. Ich dachte
  immer, so horrend und entsetzlich könnte nur ich erzählen (oder vielleicht noch
  E.A.
  Poe). Aber was das Hurzelchen da von sich gab, ist wirklich phantastisch. Warum er
  übrigens einsitzt, dazu komme ich denkbarerweise später noch einmal zu sprechen.  Hier also die Geschichte, die ich Zerr-sää-chen brönkt Rää-chen nennen möchte.
  Was das auf hochdeutsch heißt, wird sich bald zeigen:  Nun, schon der alte Turnvater Körnchen  pflegte zu sagen, dass erfolgreiches
  Regen Segen zu bringen vermag. Wie es auch sei, Hubertus Quarkstengel, den man trotz
  seiner Absonderlichkeit keinen Dummkopf nennen konnte, oblag beizeiten einer
  auditiven  Täuschung - er ist nun mal schon immer ein mehr visueller 
  als ein
  akustischer Typ gewesen -, da er die erwähnte Sentenz  mit Zersägen bringt
  Regen" zitierte, was in seiner eigentümlichen Mundart - er verbrachte seine Kinder-
  und Jugendjahre irgendwo auf halber Strecke zwischen Dresden und Radebeul, einem finsteren
  Nest, das wohl auf keiner Landkarte vermerkt ist und wo sich seine Großeltern, die aus
  einem ebenso finsteren Nest im Südböhmischen stammten, vor 70 Jahren angesiedelt hatten
  -, in Hubertus Quarkstengels Mundart klang es etwa wie: Zerrsäächen brönkt
  Räächen!. Dass er sich getäuscht, also verhört haben könnte, ist natürlich
  reine Spekulation, immerhin besteht die Möglichkeit, dass er in seiner Beschäftigung à
  tout prix  einen Sinn sehen wollte, der anderen meist abgeht. So arbeitete
  Quarkstengel seit seinem 15. Lebensjahr als Holzhacker oder besser, eben zutreffender: als
  Holzzersäger, was ihm ein erträgliches Einkommen sicherte. Eingebettet in einer noch
  bestehenden ursprünglichen Naturverbundenheit zeigte sein Instinkt ihm den Kreislauf von
  Wachsen und Sterben in der Natur auf: Wachsen durch Regen, Sterben durch Menschhand, sei
  es nun Axt oder Säge. Und da dem Sterben neues Leben folgt, folgt dem Sägen bestimmt
  einmal neuer Regen, der das Wachstum fördert.  Es war nun in dem Jahre, an dem Tag, als uns-Freud-Sigismund sein 32. Lebensjahr 
  vollendete - Hubertus steuerte auf die 28 zu -, dass Hubertus' Eltern ihren Sohn nach
  langem Schweigen an die Hand nahmen, um ihm zu eröffnen, dass es an der Zeit wäre, für
  ihn eine geeignete Frau zu suchen.  Mööchlich, antwortete Hubi, wie seine Eltern ihn liebevoll, seine
  Arbeitskameraden dagegen eher spöttisch nannten. Jenes - eingehoch-deutscht -
  möglich - aufgrund einer Presbyakusis'  der Eltern weist die
  Überlieferung hier Lücken auf - könnte allerdings auch ein mundartiges möcht
  ich gewesen sein; am Ablauf der Dinge änderte es sowieso nichts. Wie auch immer:
  Hubertus fasste es als einen Rausschmiss auf, als solcher dieser auch gemeint war.  So begab sich Hubertus zunächst nach Dresden. In flauschiger Maienzeit war es ein
  Leichtes, über Stock und Heide zu wandern, die Nächte unter freiem, noch anheimelndem
  Himmel zu verbringen. In Dresden war es schon etwas anderes. Hier stand Haus an Haus, die
  wenigen Bäume dem Schlag nicht freigegeben. Das kann nöch sein, war Hubertus' mundartige, mit dem Hochdeutschen fast
  gleichlautende Antwort. Und da die Sonne schien, brach er auf, um weiterzuziehen.
  Nix Säächen, nix Räächen!.
 Übers Nord- und Mittelböhmische führte ihn sein Weg mit den Tagen zurück in die
  Heimat seiner Ahnen. Überall gab es für ihn Brot zu verdienen, denn ein lustiger
  Holzhackerbub respektive  Holzzersäger war nun einmal gefragt.  Weniger erfolgreich erwies sich seine Suche nach einer passenden Frau. Sursum corda ,
  De Börne nöch häng-je lassen, wie er sich sagte, ließ er nicht locker, bis
  er eines Tage an ein gediegenes Frauenzimmer geriet, das ihn mit recht lasziven 
  Schmeicheleien zu fangen verstand. So säächte er ihr einen, bis der große Räächen
  kam. So ganz verstand er nicht, was das alles sollte, irgendwie passte das nicht in sein
  bisheriges Weltbild - schon gar nicht zu seinem Sinnspruch -, aber es gefiel ihm doch. Und
  wie jeder hin und wieder seine Weltanschauung ändert, so tat sich auch für Hubertus eine
  neue Welt mit neuen Inhalten und Ansichten auf, die seinen Horizont weitete, seinen
  Lebensspruch allerdings um die Silbe zer" auf ein Säächen brönkt
  Räächen" reduzierte. Als er nun glaubte, die Frau seiner Wünsche gefunden zu
  haben, musste er sich sehr bald getäuscht sehen. Daneben war es nicht nur ein amouröses
  , sondern auch ein pekuniäres  Abenteuer, denn als er am nächsten Morgen erwachte,
  war er nicht nur seiner Liaison  beraubt, es fehlten auch einige seiner
  sauerverdienten Moneten.  Ungeachtet dessen, dafür um eine Erfahrung reicher einschließlich neuen Lebenssinns,
  ging er weiter seinen Weg. Aber mit einer Frau wollte es einfach nicht klappen. Wie sollte
  es auch?! Ihm fehlten die richtigen Worte. Aber selbst, wenn er diese gefunden hätte,
  wären sie ihm keine große Hilfe gewesen, dort im Südböhmischen kurz vorm Böhmerwald.
  Welche von den Mägden, welche Jungfrau verstand schon sein kannsch möch
  mööchen oder wöllscht möch hötschen, was soviel wie kannst du
  mich mögen und willst du mich heiraten" heißen sollte. Für böhmische
  Dörflerinnen waren das alles Böhmische Dörfer. Sie verstanden höchstens
  melken" und hätscheln", was sie dann auch, ohne an eine gemeinsame
  Zukunft zu denken, taten. Für Hubertus war s aber eben nur säächen.  So zersägte er des Tags Holz, und des Nachts sägte er holde Jungfrauen. Aber das war
  nicht das, was er sich und seine Eitern gewünscht hatten, obwohl sich Hubertus in seiner
  neuen Welt recht wohl fühlte. Und so kam es, wie es kommen musste. Eines Tages fand
  Hubertus in sich eine neue Leidenschaft. Alle guten Laren  schienen ihn verlassen zu
  haben. Sein Lebensinhalt bestand plötzlich wieder im Zerr-sää-chen. Allerdings nicht
  von Holz.  12 Jahre waren inzwischen vergangen, uns-Freud-Sigismund ging auf die 44 zu und
  hantierte an der Libido , während Hubertus weiterhin am Lido  hantierte. Man
  läutete ein neues Jahrhundert ein. An den Glocken, die solch höllischen Lärm machten,
  kann es auf jeden Fall nicht gelegen haben: Hubertus begann das Zersägen von Frauen.  Es war an einem milden Winterabend. Er lernte ein schon etwas ältliches Fräulein
  kennen, das ganz seinen Vorstellungen von einer idealen Ehefrau entsprach. An dieser
  Stelle muss vermerkt werden, dass Hubertus seinem einstgen Wunsche abhold geworden
  war, sich mehr und mehr seinem Schicksale, wie es bestimmt schien, ergab. Zunächst ging
  auch alles gut. Ja, eine Spur von Glückseligkeit zeigte sich am Horizont, denn das
  besagte Fräulein, selbst schon jahrelang nach einem Gatten aus, begriff sehr wohl, dass
  unser Freund Hubertus auch eine Portion ehrbarer Absichten im Rucksack trug. Aber, oh
  Schreck, was zeigte sich da plötzlich im Bette an Hubertus' Seite? Nicht etwa das
  zartbesaitete, schüchtern-anhängliche Dämchen, nein! Wovon keiner wusste: In dem
  Fräulein erwachte ein zügelloser Vulkan, der bisher zeitlebens unter einer Erdkruste
  verborgen schlummerte, einer Erdkruste, die zwar dünn, da aber unbegangen, auch
  ungebrochen war. Nun brach dieser Vulkan in all seiner unvorstellbaren Heftigkeit aus,
  hatte vieles nachzuholen, spie seine heiße Lava aus, an der Hubertus' Räächen wie
  Wassertropfen auf einer glühend-heißen Herdplatte erst perlten, dann verdampften. Das
  Säächen brachte keinen Hubertus'schen Regen mehr. Da half nur noch Zerrsäächen.
  Zunächst taten s die von harter Arbeit gestählten Hände Hubertus' auch. Als der
  östromane  Vulkan auf diese Weise gelöscht war, kein Lüftchen mehr aus ihm wehte,
  da erst begriff unser Freund, dass das Sägen wieder zum Ursprung zurückgefunden hatte.
  Was blieb ihm mit der Leiche auch anderes übrig? Er zersägte sie in kleine handliche
  Stücke, warf diese in den Ofen, wo sie zu Asche verbrannten und dazu verhalfen, das
  winterkalte Zimmer zu heizen.  Bis hierhin durfte man Hubertus keine Schuld geben, es sei denn, man mache ihm den
  Vorwurf es Machismus  , an dem allerdings bis zum heutigen Tage und wohl auch noch
  weit darüber hinaus die meisten Männer leiden. Seine Tat geschah aus dem Affekt heraus,
  obwohl das Wort Affekt hier im Grunde fehl am Platze ist. Weniger eine heftige Erregung
  oder außergewöhnliche Anspannung war die Ursache der Tat, als gerade ihr Gegenteil. Was
  man aber Hubertus zum Vorwurf machen muss, ist das Zerrsäächen. Und er hatte Blut
  geleckt.  Hubertus konzentrierte sich von nun an ausschließlich auf alte Jungfern. Schönheit
  und dergleichen, selbst Alter spielten keine Rolle mehr. Er hatte nur noch den Wunsch,
  seine Opfer heiß zu machen, den verborgenen Vulkan zum Bersten zu bringen, um sich dann
  derer dank kräftiger Hände und Säge zu entledigen, d.h. sie kalt zu machen.
  Selbstverständlich fand er nicht allerorts den erhofften Vulkan, in einigen war durch das
  Alter das Feuer erloschen. Und doch, war es auch nur ein Knistern, es reichte ihm: Zum
  Zersägen genügten sie ihm alle mal.  Wie viele so sein Opfer wurden und durch den Schornstein gingen, wurde nie bekannt.
  Hubertus Quarkstengel war nicht der Mann, der darüber Buch führte. Und wie sonst sollte
  man die Zahl derer feststellen, die zu Asche verbrannten.  Der pure Zufall war es dann auch, der zum Stolperstein für Hubertus wurde. Bisher
  hatte er es verstanden, ohne Spuren zu hinterlassen - bis auf den Rauch, der aber schnell
  von Winde verweht wurde -, weiter von Ort zu Ort zu ziehen. Im Böhmerwald, über die
  Moldau hinweg im Südböhmischen, ja wieder Richtung Dresden ziehend in Westböhmen
  zwischen Pilsen und Karlsbad lebten von Tag zu Tag immer weniger alte Jungfrauen, die
  darauf warteten, vom Fleck weg geheiratet zu werden.  Und kurz vor Komotau sollte es dann passieren, dass von einer Stunde auf die andere der
  Winter vom Frühling abgelöst wurde. Am blauen Himmel schien die Sonne, jegliche Wolke
  hatte sich gen Osten verzogen, der Schnee schmolz zu kleinen Rinnsalen, die sich den
  Flüssen ergossen. Wie schon anfangs erwähnt, war Hubertus kein Dummkopf. Bei dieser
  Wärme konnte man unmöglich den Ofen brennen haben, das wäre sofort aufgefallen. Keiner
  hatte das Geld, sinnlos Brennstoff zu verheizen. Aber der Boden war noch hart gefroren, um
  ein Loch zu graben, dass groß genug wäre, den zersägten Leichnam aufzunehmen. Bis die
  Nacht käme, blieb ihm keine Zeit. Seine Geduld reichte nicht dazu. So verstaute er die
  Leichenteile unter einem Holzstapel und ergriff die Flucht, so als ahnte er es, zwei Tage
  später festgenommen zu werden. Ein älterer Herr, der als Beamter kurz vor der
  Pensionierung stand und als schrumpeliger Junggeselle ein Auge auf die fast ebenso
  schrumplige alte Jungfer geworfen hatte, wollte, da er nach Jahren endlich den Mut fand,
  seine Aufwartung zu machen, diesem Jungferchen, das Hubertus Quarkstengels letztes Opfer
  sein sollte, einen Besuch abstatten. Was er fand, war nicht eine - wie er es sich
  ausgemalt hatte - unter seinen Blicken aufblühende Braut, sondern ein zerstückelter
  Leichnam. Und es dauerte denn nicht mehr lange, immerhin noch zwei Tage, als man auf den
  vagabundierenden Hubertus aufmerksam wurde, an dessen Säge sich nicht nur Sägespäne
  befand, sondern auch verkrustetes Menschenblut.  Hubertus war sogleich geständig. Nach seinem Motiv befragt, antwortete er nur kurz -
  na, was wohl: Zerrsäächen brönkt Räächen!".  Soweit die Geschichte von Hubertus Quarkstengel (schon der Name ist
  Programm). Irgendwie hat uns-Freud-Sigismund, wie unser Männlein den Erfinder der
  Psychoanalyse zu nennen pflegt, sich seiner angenommen. Leider ist sein Fall in keiner der
  Studien Freuds aufgeführt. Hiermit soll dieses nachgeholt sein. Seinen Lebensabend
  fristete Hubertus wieder mit dem Zersägen von Holz, das zur Feuerung der Anstalt diente,
  die ihm Unterkunft gab. Den Verwicklungen der deutschen Geschichte in den 30er Jahren
  entging er durch rechtzeitigen Tod. Er starb im Jahre 1932 an einer Blutvergiftung,
  nachdem er mit der Säge aufgerutscht war und sein rechtes Bein verletzte. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          |  7  Und er kam wieder. Mein Bezirksleiter. Irgendwie hatte man ihm wohl Feuer unter dem
  Hintern gemacht. Sein Bericht vom ersten Besuch bei mir muss für die Herren Direktoren
  mehr als unbefriedigend gewesen sein. Jetzt versuchte er es mit der knallharten Methode.
  Den Fuß in der Tür wollte er heute die Bratfischpfanne an mich verkaufen bzw. eine
  Klärung des Falles herbeiführen.  Nach dem Vorgeplänkle, dem Austausch allgemeiner Höflichkeiten kam er gleich zur
  Sache. Das hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Jetzt war ihm das Produkt, also das zu
  erzielende Ergebnis, eindeutig wichtiger als die Verkaufsstrategie. Aber Frisch gewagt ist
  halb gewonnen! und Überzeugung tut not! blieben ihm ja noch, auch wenn Aller Anfang
  schwer ist. Mit meiner Gegenstrategie musste ich also gegenhalten. Zunächst hieß das zu
  sondieren, was für mich herauszuschlagen sei. Er rückte, wenn auch etwas verklausuliert, mit der Wahrheit heraus (das kann doch kein
  neuer Lehrsatz von ihm sein: Wahrheit!), eben mit dem Hinweis, dass Frau Müller zu klagen
  gedenke, wenn nicht freiwillig ein Schadenersatz in einer gewissen Höhe (die Höhe nannte
  er nicht) von der Firma geleistet wird. Aber genau daran denke man nicht. Es war ja mein
  schuldhaftes oder vielleicht doch eher fahrlässiges, wenn nicht sogar
  zurechnungsunfähiges Verhalten, das zu diesem Unglücksfall geführt hatte. Ich sei mit
  Sicherheit auch provoziert worden. Viele mildernden Umstände wären anzuführen, man
  müsse sich nur auf die Suche nach ihnen machen.
 Also der Verkaufsrepräsentant des Unternehmens (keine Herren Direktoren mehr? wie
  schade) lehnt jegliche Zahlung an Schadenersatz ab. Jeder vernünftige Jurist würde der
  Frau Müller abraten, einen Prozess anzustrengen. Aber man weiß ja nie, da gibt s
  die Pfennigfuchser, die aus jedem Mist ihre Groschen zu pressen verstehen. Nun wolle man
  von mir eine Erklärung, dass ich mich zu der Tat verantworte und in mir gegebenen
  schlichten Worten erläutere, wie es zu dem von allen, von mir am meisten, als
  bedauernswert empfundenen Vorfall kommen konnte. Er hätte sich bereits daran gemacht,
  einen kleinen Schriftsatz aufzusetzen, der selbstverständlich in jeder Art von mir
  revidiert werden könnte. Ihm genüge heute eigentlich nur mein erstes Einverständnis,
  einen solchen Schriftsatz zu unterschreiben.  Nebenbei hätte er auch schon ein kurzes Gespräch mit dem mich behandelnden Arzt
  geführt, das ihn zu der Überzeugung kommen ließ, dass ich nicht unheilbar psychisch
  erkrankt sei, im Gegenteil, dass mit meiner baldigen Genesung zu rechnen sei. Mein Arzt
  wäre vor allem bereit, eine Art ärztliches Attest auszustellen, das im Tenor aussage,
  ich sei durch großen seelischen Stress zu der Handgreiflichkeit veranlasst worden,
  wodurch meine von ansonsten großer Charakterstärke geprägte Verhaltensweise lediglich
  temporär außer Kontrolle geriet. Zum seelischen Stress würde er genügend Beiwerk
  liefern, ebenso zur Aussage, ich sei charakterlich stark. Jenes wie dieses wäre im
  gutachterlichten Sinne durch ihm, dem Facharzt, zu belegen.  Bravo, das war ganze Arbeit, mein Bezirksleiter! Soweit, so gut! Was kratze mich das
  aber alles. Ob Frau Müller nun klagt oder nicht, konnte mir völlig gleich sein. Ich
  hatte höchstens zu befürchten, dass ich wegen Körperverletzung verknackst werde. Aber
  das stand auf einem anderen Blatt. Mit welcher Gegenleistung war zu rechnen, wenn ich
  diesen Wisch unterschreibe? Das wollte ich gern wissen. Aber das konnte ich natürlich
  nicht so frei heraus fragen.  Im Geiste zerriss ich zuerst einmal mein Gegenstrategiepapier. Ich musste gestehen:
  Mein Kontrahent hatte ausgeschlafen! Er versteht sein Geschäft und ist wohl nicht umsonst
  Bezirksleiter mit Aussicht auf baldige Beförderung! Aber diese wollte ich ihn so schnell
  nicht ermöglichen. Ich griff zum Lehrsatz fünf meines Widersachers: Zeit ist Geld! Ich
  musste Zeit gewinnen. Jeder Kunde, der gleich jedes Blatt Papier unterschreibt, ist im
  Sack. So schnell wollte ich nicht nachgeben. Und irgendwas musste für mich dabei
  herausspringen. Der Kunde bekommt wenigstens noch ein Produkt für sein Geld, und sei es
  auch nur eine Bratfischpfanne. Leistung und Gegenleistung müssen sich die Waage halten!
  Ja, das war es: Den Wisch gegen einen anderen Wisch!  Wenn das mit dem Arztgespräch stimmte, dann konnte das nur heißen, dass man
  beabsichtige, mich, wenn auch nicht sofort, so doch bald aus diesem Hause zu entlassen.
  Entlassen! Wäre ich dann auch noch von meiner Arbeit entlassen, sähe ich alt aus. Das
  musste also geregelt werden. Nur jetzt und hier konnte das unmöglich geschehen. Somit
  erst einmal auf Zeit setzen.  Ich nahm also den Wisch und schaute ihn mir an. Vielleicht ließ sich aus seinem Inhalt
  auf die Absichten des Verkaufsrepräsentanten und meines Bezirksleiters schließen. Viel
  hatte der Herr Bezirksleiter nicht zusammen bekommen (hinter der ganzen Offensive gegen
  mich steckte also vor allem der oberste Verkaufsheini). Da stand zunächst etwas davon,
  dass ich meinem Bedauern Ausdruck verleihe, dass ich mich schäme, zu solch
  unverhältnismäßigen Mitteln Zugriff genommen haben und dass es mir in meiner jetzigen
  Situation einfach unverständlich erscheint, dass es überhaupt dazu kommen konnte. Es tue
  mir leid! Dann hatte er stichwortartig Gründe zusammengeklaubt, die Ursache für mein
  Verhalten sein könnten. Alles irgendwie mit Druck auf die Tränendrüsen, aber doch
  akzeptabel. Der letzte Absatz gefiel mir dann doch weniger, in dem er mir die Hand
  führte, um nicht nur um Abbitte zu winseln, sondern sogar Wiedergutmachung anzubieten,
  wie, blieb dabei offen.  Ich hatte zwar den Schrieb in der Hand, aber kein Mittel, um mich gegen diese
  profimäßig agierenden Lumpensäcke zu wehren. Ich war fast soweit, kampflos aufzugeben
  und sagte, gewissermaßen um innerlich Luft zu holen, dass das ja alles ganz toll sei, wie
  aus meinem Herzen, aus meiner Seele, ja, meinem Bauch geschüttet und zu Papier gebracht.
  Wo er denn nur einen Stift hätte, um meine Unterschrift zu leisten. Damit hatte er dann
  doch nicht gerechnet. Er hätte das alles ja nur erst einmal in Kladde für mich verfasst,
  sozusagen als Diskussionspapier. Aber wenn ich so bereitwillig wäre, ein entsprechendes
  Dokument zu unterzeichnen, dann wolle er sich sputen, um ein wirklich unterschriftreifes
  Papier zu erstellen. Ich fürchtete fast, dass er aufspringen könne, losrennen, um mir in
  Minutenfrist das Zettelchen, bereit zur Unterzeichnung, unter die Nase zu reiben.  Seine Verwunderung, so schnell meine Bereitwilligkeit zu erheischen, gab mir wieder
  Mut. Ich drehte den Zettel hin und her, drehte ihn von oben nach unten und von links nach
  rechts, als suche ich etwas, was nirgends zu finden sei. Er runzelte bereits die Stirn,
  als ich nicht mehr umhin konnte, ihn zu fragen: Aber da fehlt doch noch etwas!
  Finden Sie nicht auch? Ich finde es auf jeden Fall nicht! Oder? Sie sind mir einer. Wo
  haben Sie es nur versteckt?  Er wollte wissen, was ich meine. Er könne sich nicht denken, was ich suche. Na,
  da fehlt doch noch was!, wiederholte ich. Irgendwie wusste ich in diesem Augenblick
  selbst nicht, was ich suchte. Oder ich wusste nicht, wie ich es ihm verklickern sollte,
  dass ich auch gern ein Papier hätte, in dem zumindest steht, dass man auf meine
  Weiterbeschäftigung nicht zu verzichten gedenke. Jetzt spielte Zeit für mich keine Rolle
  mehr. Da er knallhart war, musste ich es auch sein und sagte mit bestimmtem Unterton in
  der Stimme, damit auch nicht der geringste Zweifel an meiner Standfestigkeit auftreten
  konnte: Die Entlassungspapiere! Pause! Oder wollen Sie mir einreden,
  dass man nicht gedenkt, mich zu entlassen!  Wieder war er verblüfft. Außer zu einem Aber, war er zu nichts anderem zu sprechen
  imstande. Ich habe bekundet, Ihr Papier zu unterschreiben! Ich erwarte dann aber
  auch ein Entgegenkommen Ihrer Seite. Nicht mehr lange und ich werde hier entlassen sein.
  Eine leichte Unpässlichkeit, nicht viel mehr. Und ich werde dann wieder arbeiten müssen.
  Wird das weiterhin mit Ihnen sein, oder denkt man daran, mich hinauszuwerfen? So antworten
  Sie mir! Wieder ein Aber. Diesmal mit dem Hinweis, dass darüber, nämlich über
  meine Entlassung, kein Wort gefallen sei. Also denke man bestimmt auf höherer Ebene auch
  nicht daran. Nochmals ein Aber, diesmal von mir. Aber auszuschließen ist das eben
  nicht! Klären Sie das! Und wenn es im für mich positiven Sinne klargestellt ist, dann
  kommen Sie sowohl mit der entsprechenden schriftlichen Bestätigung zu mir, als auch mit
  dem Schreiben, das Sie von mir unterzeichnet wünschen! Das wär s dann wohl!
  Tür auf, Klappe zu, Affe tot!  Er sprang auf, kramte schnell seine Sachen zusammen und rannte zur Tür. Mit einem
  Tschüß denn auf den Lippen ließ er sich durch den Ausgang gleiten. In diesem Augenblick
  verging sich an der Schwester der Doktor trotz geradezu unendlicher Wehr. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          | 8 Sex and Crime  ist in diesem Hause nur bedingt ein Thema. Dafür ist Literature
and Crime schon eher ein Einweisungsgrund. Sex oder besser: das Defizit an Sex spielt
dabei selbstverständlich eine wichtige Rolle. Da liest ein Jüngling den Steppenwolf von
Hesse und in seinem Gefühl, von der Welt nicht verstanden zu werden, sehnt er sich nach
dem Tode. Eigentlich klappt er nur nicht mit seiner Freundin. In seinen schriftlich
verfassten Liebesbeschwörungen nennt er sich so Stephen Wolf. Oder da liest ein Mann die
Geschichte der unausgefüllten und unbefriedigten Madame Bovary, und der Gedanke, seine
Frau gehe fremd, überkommt ihn wie eine fixe Idee, sodass er nach einem gott-sei-dank
fehlgeschlagenen Versuch, seine Frau totzuschlagen, hier eingeliefert wird ("Und
außerdem nahm sie öfter in der Nachbarschaft an Tupper-Partys teil, als dass wir
miteinander schliefen!"). Ein weiterer ging ebenfalls seiner Frau an die Gurgel, weil er nach der Lektüre von
Strindbergs Plädoyer eines Irren - hingerissen zwischen Verachtung und Anbetung der
geliebten Frau - der Annahme war, seine Frau wäre eine Prostituierte, die in der Zeit, da
er auf der Arbeit weilte, mit fremden Männern schliefe. Dabei wollte er nur selbst
entsprechend bedient werden. Aber ein ganz besonderer Fall ist der des Herrn Wächter. Er wird aus triftigen Grund
der Schlosswächter genannt oder auch Wachhund. Eigentlich interessierte er
sich nur wenig für Literatur. Und wenn, dann nur, um sich mit aus den Büchern
gesammelten Zitaten, also mit fremden Federn zu schmücken. Es muss wohl solche Menschen
geben, die zu jedem Stichwort ein passendes Zitat auf Lager haben: Der wandelnde
Büchmann! Wie auch immer! Herr Wächter ist das, was man einen cholerischen Typ zu nennen pflegt, er ist leicht
aufbrausend und nur selten in Kürze zu beruhigen. Hinzu kommt ein äußerst ausgeprägter
Gerechtigkeitssinn, der erst dann gestillt oder zumindest besänftigt ist, wenn ein auch
nur scheinbar vorhandenes Unrecht getilgt ist. Behörden, Gerichte, Institutionen der
unterschiedlichsten Art - alle kennen diese Schreiber seitenlanger Pamphlete, in denen
sich beschwert wird, in denen Anschuldigungen gegen alles und nichts erhoben, in denen auf
Missstände der obskursten Art aufmerksam gemacht werden und in denen sich die wütende
Volksseele ein Ventil sucht. Einer von denen ist der Wachhund. Alles wohlformuliert
und mit Zitaten angereichert, damit auch nicht im entferntesten der Eindruck entstehen
könnte, hier schriebe sich ein unbefriedigter und selbstgerechter Querulant den Frust von
der Seele. Dann begann aber das Unglück. Als Krönung seiner bisherigen Laufbahn als juristisches
Gewissen der Nation fielen ihm zwei Bände Kafka in die Hände: Der Prozess und Das
Schloss! Das ist Weltliteratur! Zwei Meisterwerke, wenn auch unvollendet! Wie konnte er
sich mit den gequälten Seelen von Josef K. bzw. K. identifizieren. Er ging daran, das
Werk Kafkas gewissermaßen zur Vollendung zu bringen. ... |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          | 9 Überhaupt ist es hier eine sehr erlauchte Gesellschaft sogar mit namhaften Gesichtern.
Die reinste Prominenz. Bekannt aus Funk und Fernsehen. Zumindest aus der städtischen
Tageszeitung. Unter anderem auch Albus Vulcano, der stadtbekannte Künstler, der im
wesentlichen das Thema Vulkane künstlerisch aufarbeitet. Dass er so nicht mit wirklichem
Namen heißt, ergibt sich aufgrund des Namens schon von selbst. Eigentlich heißt er Willi
Weiß, aber das erfuhr ich erst später, als wir schon warm miteinander geworden waren
oder, wie Albus, also Willi, meinte: heiß! Denn wenn man sich für Vulkane interessiert,
dann kann etwas nur heiß, siedend, glühend, am besten brennend oder kochend und damit
brodelnd und im lava-schwefligem Sinne auch blubbernd sein. Oder vulkanisch - damit
umschrieb er alles, was mit Leidenschaft zu tun hatte, mit ungehemmtem, ungezügeltem,
ungestümem und ungezähmtem Temperament. Willi nannte sich Albus mit Vornamen, um darin
seinen eigentlichen Nachnamen wiederzufinden. Aber Albus war eigentlich kein Vorname,
sondern das Attribut zu Vulcano: albus wie weiß - was seine ganze Phantasie vereinnahmte,
war ein aktiver weißer Feuerberg! Weißglut! Oft hatte er den Ätna
fotografiert mit
seinen unzähligen Kratern, wie er schneebedeckt über Sizilien ragt. Was würde er geben,
wenn er einmal dabei wäre, wie aus diesem Vulkan die Lava gespieen sich zischend durch
Schnee und Eis Bahn bricht. Gekannt wurde Albus durch unzählige Gemälde zum Thema Vulkan. Aber auch seine Fotos
von erkalteter Lava in all ihren möglichen Strukturen fanden den Weg in die Galerien.
Daneben verfasste er auch Gedichte und kleinere Prosastücke, die dem gleichen Motiv
gewidmet waren. Die Gedichte schrieb er gewissermaßen wie ein junger Wilder.  Als wir bereits miteinander wie gesagt heiß waren, saß er gerade über einen aus
einer Zeitung herausgerissenen Zettel und war dabei, ein Gedicht niederzuschreiben. Zuerst
warf er Brocken an Halbsätzen aufs Papier. Ich las: 
  Speiende heiße MasseAsche, die den Himmel verdunkelt
 brodelnde Lava aus allen Poren der Erde
 Erst Ursprung des Lebensheute Tod
 Da er durchaus auf Reime besteht, so suchte er zunächst für die Endungen seiner
Brainstorming-Halbsätze die passenden Reimwörter. Da es für fast jedes Wort auch ein
Reimwort gibt, so konnte er jung-wild seine Halbsätze ergießen lassen (und sollte es
einmal kein Reimwort geben, so erfand er einfach eines, wie er mir sagte; nur in absoluten
Ausnahmefällen schrieb er einmal seinen Halbsatz um; gänzlich getilgt hatte er bisher
noch keinen dieser wildgewordenen Wortschnipsel). Ich las weiter: 
  Speiende heiße MasseTerrasse/Trasse/ ...asse
 Asche, die den Himmel verdunkelt
 munkelt/funkelt/ ...unkelt
 brodelnde Lava aus allen Poren der Erde
 Pferde/Herde/ ...erde
 Erst Ursprung des LebensBebens/Hebens/ ...ebens
 heute Tod
 Kot/Not/ ... od/t
 Jetzt musste er nur noch den ersten Halbsatz mit jeweils einem zweiten ergänzen, wobei
er peinlichst darauf achtete, dass jetzt auch der Sprachrhythmus stimmte (Hatte der erste
Halbsatz sieben Silben, so musste dies auch der zweite Halbsatz haben). Wenn es dann noch
zu halbwegs logischen Zusammenhängen seiner Wortergüsse kam, war am Ende ein
Vulkanisches Wortgestein geboren, das nur noch der Veröffentlichung harrte. Er riss ein
weiteres halbwegs unbedrucktes Stück Papier aus der Zeitung und schrieb: 
  Speiende heiße Masseüberspült hohe Trasse
 Asche, die den Himmel verdunkelt
 Glut, die grell wie Sterne funkelt
 brodelnde Lava aus allen Poren der Erde
 zieht zäh und träge wie die endlos weite Herde
 Erst Ursprung des Lebensnicht wert des Aufhebens
 heute Tod
 große Not
 Wider Erwarten kamen so (wie das Beispiel halbwegs anschaulich zeigt) durchaus auch
für den anspruchvollen Leser akzeptable Verse heraus. Meist aber wuchs ein Ungetüm an
zusammenhanglosem Wortgewusel heran, speziell wenn er, z.B. in einem Wörterbuch fürs
Isländische, blätternd deutsche und hier isländische Wörter erst streute, um sie dann
mit der Feder in der Hand auf Papier zu bündeln. Willi Weiß, als er noch Willi Weiß durch und durch war, hatte die Bäckerei erlernt.
Er lebte in einer kleinen Stadt nicht weit von hier entfernt. So buk er Tag für Tag seine
Brötchen. Da Zufall immer eine große Rolle spielt, wollte es dieser, dass er durch
Kameraden aus dem Sportverein, in dem er zweimal wöchentlich breitensportlich turnte,
gefragt wurde - unter Kameraden macht man das -, ob er nicht Lust hätte, an einer
zweiwöchigen Tour nach Island teilzunehmen. Island sagte ihm eigentlich nichts. Aber da er auch sonst nichts Besseres vorhatte und
die Kosten sich wohl in seinem Rahmen hielten, sagte er zu und fuhr so für zwei Wochen
nach Island. Und so lernte er Eis- und Feuerberge kennen. Zwar sah er viel Eis und auch
Berge, aber leider kein Feuer, also keine ungezügelt dahin fließende Lava. Aber der Augenblick, in dem er auf dem Flughafen von Keflavik isländischen Boden
betrat, war die Geburtsstunde des Albus Vulcano. Allgemein tragen wohl Bäcker ein
Potential an Abenteuerlust in sich, wie andere Beispiele zeigen. Willi bzw. Albus ging es
aber jetzt nicht nur um Nervenkitzel, Wagnis oder gar Vabanquespiel. So wie die Glut
jahrelang im Vulkan vor sich hindümpeln kann, so verbarg sich in Willi-Albus ein Hang zum
Künstlertum. Und gleichsam einem Vulkan brach dieses Künstlertum hervor. Zunächst
schoss er Foto um Foto. Aber schon zurück in deutschen Landen wagte er es, Leinwände mit
Ölfarbe zu bemalen. 
 Und zuletzt kam er dann auch noch zur Schriftstellerei. Jetzt war er dabei, so etwas
wie eine Vulkan-Sprache zu kreieren. Was bot sich als Fundus da Besseres an als das
Isländische, die Ursprache des Vulkanischen. Wie erwähnt hatte er bereits in vielen
Gedichten auf diese zutiefst nordische Sprache zurückgegriffen. Und so kam es, dass er
auch mir gegenüber z.B. nicht von Asche sondern von aska sprach, Lava war hraun
(Aussprache ist etwa: hröin mit kräftigem h vorneweg) und Vulkan eldfjall.
Das höchste aller Gefühle war dann doch, wenn er für Vulkan das isländische Wort mit
der deutschen Wortwörtlichkeit Feuerberg benutzte. In keiner Rede - außer in der von
Albus - kamen so häufig die Worte Krater, Blitz und Donner und Feuerprobe
vor.  
 |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          | 10 Neben meinem Herrn Doktor gibt es natürlich noch andere Ärzte, die sich um die
geistige und seelische Genesung der eingewiesenen Patienten kümmern. Mit einem dieser
Ärzte hatte ich bisher nur beiläufig Kontakt. Er ist ein großgewachsener, für sein
Alter von - ich schätze - gut 40 Jahren schlanker und auch gut aussehender Mann, der
irgendwie eine angenehme Ruhe ausstrahlt, im Gegensatz zu meinen Arzt, der immer äußerst
hektisch wirkt. Bekanntlich haben auch Ärzte ihre Krankheiten. So fehlte eines Tages mein Herr Doktor,
weil ihn ein Grippevirus heimgesucht hatte. Stellvertretend für ihn wurde ich mithin von
dem eben erwähnten Arzt weiterbehandelt. Wir kamen so ins Gespräch. Er blätterte dabei nebenbei in meiner Akte und sah wohl, dass ich mich für Literatur
interessiere. Und als ich ihn darauf ansprach, dass er auf mich einen ungemein lockeren,
ja beruhigenden Eindruck mache, richtete er sich plötzlich in seinem Stuhl auf, rückte
näher an den Tisch, um in seinem Schreibtisch zu kramen: "Es ist eigentlich nicht meine Art", fasste er sich wohl ein Herz zu sagen,
"Patienten mit mir ganz privaten, gar intimen Dingen zu konfrontieren. Aber da Sie
das Thema gewissermaßen kratzen, und ich den Eindruck habe, einen gestandenen und
lediglich fehlgeleiteten Menschen vor mir zu haben, so darf ich durchaus auf eine von mir
entwickelte Theorie zurückkommen. Theorie ist etwas zuviel gesagt. Und was das Private
oder Intime an der Sache betrifft, so ist es das nur, weil das Besagte von mir
stammt. Aber ich will es nicht so spannend machen. Ob nun Theorie oder was auch immer! Ich
denke, dass jeder Mensch auf seine Weise das Potenzial in sich trägt, um das zu finden,
was schlechthin die Wahrheit genannt wird. Von Wahrheit zu sprechen, halte ich für
reichlich überzogen. Einige nennen es durchaus richtig: Weg! In den fernöstlichen
Weisheiten finden wir diesen Begriff sehr häufig!" Ich bestätigte das, nannte den Taoismus und das chinesisch Weg eben Tao (und nach
Aussprache und neuerer Schreibweise Do) heiße. "Genau! Nun ich wollte weder einen neuen Taoismus noch eine entsprechende
westliche Variante kreieren. Ich bin einfach von dem ausgegangen, was mir selbst immer
geholfen hat, meinen Lebensweg zu finden. Wenn ich Ihnen etwas vom Goldenen Weg der Mitte
erzähle, so kommt das Ihnen bestimmt mehr als bekannt vor. Das klingt fast schon
abgedroschen. Nennen wir es anders; nehmen wir stattdessen einfach einen moderneren
Begriff: Timing! Das richtige Timing! Das geht dann zwar in eine andere Richtung, denn die
Beziehung beruht nicht mehr auf ein Äußere, den Weg, sondern auf die Art und Weise der
Handlung, das Wie - also: mit welchem Timing ich etwas mache. Nach dem Motto: Gut getimt
ist halb gewonnen!" Er schob mir eine Mappe zu, die ich gleich in die Hand nahm, aufschlug und die wenigen
Seiten in ihr durchblätterte. Dabei stachen mir die Worte der Überschrift Richtiges
Timing zwischen Exzess und Askese in die Augen. "Bitte, lesen Sie das einmal in aller Ruhe durch. Lassen Sie sich Zeit. Auch mit
Ihrem Urteil. Obwohl es mir ganz recht wäre, wenn sie mir ganz spontan Ihren ersten
Eindruck wiedergeben würden. Ich will nicht beschwichtigen oder gar abwiegeln, wenn ich
sage, dass das dort Geschriebene noch nicht ganz zu Ende gedacht ist, vielleicht sogar das
ist, was man unausgegoren nennt. Aber vielleicht kennen Sie das Gefühl, das einem
befällt, wenn man einem anderen etwas aus der eigenen Feder zum Lesen gibt. Noch war man
sich ganz sicher, etwas ganz Hervorragendes verfasst zu haben. Aber kam hält es ein
anderer in Händen, schon beschleicht einem das Gefühl, dass das Geschriebene nur so von
Fehler strotzt. Am liebsten möchte man es den fremden Fingern entreißen! Aber ich habe
Mut. Hier nehmen Sie es!" Mir blieb nichts anderes übrig. Und ich las die ersten zwei Seiten. Richtiges Timing zwischen Exzess und Askese
(richtiges TEA)
       Die richtige Wahl der Schritte in Tempo,
Schrittlänge und Frequenz erlaubt ein ausdauerndes Gehen. Die ausgewogene
Zusammenstellung der Nahrungsmittel sättigt ohne Völlegefühl. Eine vernünftige
Lebensgestaltung mit Beschäftigungen in den unterschiedlichsten Bereichen wie Sport,
Kultur usw. gewährleistet neben der beruflichen Tätigkeit ein erfülltes Dasein. Um die richtige Wahl treffen zu können, muss ich die
Dinge kennen, die Einfluss auf den Ablauf haben, um das optimalste Ergebnis zu erzielen.
Und die Dinge, die Einfluss nehmen, bedürfen dabei der richtigen Dosis, die individuell
unterschiedlich sein kann. Bezogen aufs Gehen wird ein junger Mensch durchaus ein höheres
Tempo als ein älterer Mensch anschlagen können, ohne schnell zu ermüden. Für einen
körperlich großen Menschen ist eine größere Schrittlänge bei kleinerer
Schrittfrequenz sinnvoller als bei einem kleinen. Aber das sind nur einige der Faktoren,
die z.B. das ausdauernde Gehen bedingen. Es kommt ganz einfach auf das richtige Timing,
die vernünftige Dosierung, das rechte Maß unter Einbeziehung aller mir bekannten
Bedingungen an.  Bleiben wir kurz beim Gehen. Wenn ich eine bestimmte
Strecke immer wieder aufs neue gehe, so kenne ich die besonderen Bedingungen, die diese
Strecke beinhaltet. Es kann z.B. sein, dass eine Kreuzung mit Ampelschaltung meinen Weg
säumt. Mit der Zeit kenne ich die Phasen, also die zeitliche Abfolge, in der die Ampel
von rot auf gelb und dann auf grün schaltet und zurück. Dosiere ich aus der Ferne meinen
Schritt entsprechend, so kann ich eine grüne Phase erwischen und brauche nicht unnötig
vor der Ampel stehen bleiben. Weitere Faktoren wie Wetter, persönliches Befinden usw.
bestimmen ebenfalls mein Gehen; ist es angenehm frisch, aber nicht zu windig, und
bin ich ausgeruht, so kann ich meinen Weg leichter gehen, also ohne unnütze Kräfte zu
vergeuden. Was die Strecke als solches anbelangt, so wähle ich mir jene, die mir von ihren
Bedingungen als die günstigste erscheint. Länge, Hindernisse (wie z.B. die Ampel)
u.ä. spielen dabei eine Rolle. Die Alternativen ergeben sich aus der
unterschiedlichen Summe der Bedingungen und deren anhängigen Attribute. Mein Wissen und
das Umsetzen dieses Wissens bestimmen dann die Wahl. Schlage ich also z.B. einen mir
bisher unbekannten Weg ein, so kann das zur Folge haben, dass ich vielleicht eine kürzere
Strecke zurückzulegen habe, aber durch erschwerende Hindernisse muss ich mehr Kraft
aufwenden, diesen neuen Weg zu gehen, und zeitlich habe ich auch keinen Gewinn. Aber ich
habe mein Wissen erweitert und weiß nun, dass dieser mir bisher unbekannte Weg nicht der
richtige ist. Ohne Erfahrung, also Wissen, kann ich nicht das rechte Maß, das richtige
Timing finden. Mithin ist das rechte Maß nichts Mittelmäßiges. Im
Gegenteil: Ich muss probieren, muss mir Informationen über den Zustand des Lebens
aneignen, um daraus die Lehre zu ziehen: das richtige Timing zu finden. Das rechte Maß, die richtige Dosierung liegt dabei
immer zwischen Exzess und Askese. Wer über seine Mittel hinaus geht, wer auf Dauer
unnütz Energie verschleudert, aber auch wer seine Kräfte nicht im vorhandenen Maß
benutzt, der wird das richtige Timing ohne weiteres nicht erlangen. 
Der Doktor wippte reichlich unruhig auf seinem Stuhl. Ich hatte den Eindruck, er
mache Immer wieder Anstalten aufzuspringen, um mir das Manuskript zu entreißen. Aber als
besönne er sich, riss er sich förmlich zusammen, und machte das, was man gute Miene
zum bösen Spiel zu nennen pflegt. So kam es mir auf jeden Fall vor, wenn ich
gelegentlich kurz aufblickte, so als dächte ich kurz nach, um das Gelesene zu
überdenken, Revue passieren zu lassen. Als ich dann zum zweiten Male umblätterte starrte ich auf ein leeres Blatt Papier. Ich
blätterte weiter. Und wieder nur leere Blätter. Ich schaute auf. Mit gierigem Blick
guckte mich der Doktor an, als wäre ich wie im Märchen die Großmutter, die er wie der
Wolf zu fressen beabsichtigte. "Genug!", sagte er in einem Ton, der seine Anspannung verriet, diese aber
doch so verhalten wie möglich auszudrücken suchte. Eine kurze Pause entstand. "Bin ich verrückt? Halten Sie mich für verrückt, solches Geschreibe zu
verfassen?" Ich bemühte mich, Fassung zu wahren und verneinte sogleich seine doppelt
gefasste Frage: "Nein, wie kommen Sie darauf? Das klingt doch alles ganz plausibel,
was Sie da geschrieben haben. Im Gegenteil! Es ist mehr als vernünftig, was ich da
lese!" "Das ist Ihr erstes, ganz spontanes Urteil! Richtig? Nicht das ich anderes
erwartet habe. Aber manchmal wähnt man sich auf dem falschen Weg, auf dem Abweg. So als
Arzt in einer solchen Institution fürchtet man sich oft genug davor, sich gleichsam bei
den Patienten anzustecken. Nicht das ich denke, verrückt zu sein, wenn ich mich hinsetze,
ein solches Traktat zu verfassen. Aber auch ich bin nicht davor gefeit, hin und wider
meinen Verstand in Zweifel zu ziehen. Übrigens ist das eine These, die ich noch in diese
Abhandlung einarbeiten möchte. Nur ist mir der Bezugspunkt zum Thema Timing noch nicht
geglückt. Es geht überhaupt um das Thema Anzweiflung. Wie gern nehmen wir alles und
jeden als Tatsache, als einen unwiderlegbaren Grund, auf dem alles andere aufgebaut zu
sein scheint. Wie vieles sollte da doch lieber hinterfragt, wenn eben nicht sogar
angezweifelt werden. Und sich selbst sollte man dabei am wenigsten aussparen. Aber lesen
Sie weiter. Viel habe ich nicht mehr zuwege gebracht. Aber auch dieses Wenige sollen sie
kennen lernen. Blättern Sie noch einmal um, und dann geht es weiter". Ich las also
weiter. Es heißt so schön: Der Weg ist das
Ziel! Ein Ziel ist eigentlich etwas Starres, Fixiertes. Ist ein Ziel erst einmal
erreicht, so ist man an einem Punkt, an dem man ein neues Ziel anzustreben hat oder man
verharrt an diesem. Verharren gleich Erstarren! Dagegen heißt es, sich auf den Weg
machen, sich bewegen. Bewegung ist eindeutig etwas Dynamisches. Ist also der Weg das Ziel,
so ist das Ziel nicht mehr das Starre, sondern da es nicht mehr fixierbar ist, bleibt es
lebendig und voller Energie. Und wird auf die Bewegung der Grundsatz des richtigen Timings
angewandt, dann bedeutet das nicht nur ein Bestmöglichstes an Bewegung, sondern auch eine
weitere Steigerung des Lebensgefühls. Es wird der Einwand erhoben werden: Die Lehre vom
richtigem TEA sei der Weg des geringsten Widerstandes. Den geringsten
Widerstand habe ich, wenn ich mich klein und unscheinbar mache. Das ist nicht der Weg,
denn das käme der Askese gleich. Nur sollte der Widerstand, den man bietet, richtig
getimt sein. Was nützt es, wenn man sich aufplustert wie ein Gockel (Exzess) und beim
nächsten Windstoß wäre man hinweggefegt! Und wenn ich den geringsten Widerstand
leistete, so käme das doch der Todesstarre gleich. Nein, weder vom geringsten noch vom
größtmöglichen Widerstand kann die Rede sein - nur: vom richtigen Timing. Kaum hatte ich zu Ende gelesen, schlug ich demonstrativ die Mappe zu und
richtete mich auf meinem Stuhl auf. Der Wolf starrte mich an, als wäre ich Rotkäppchen.
Durch den Genuss der Großmutter schon reichlich gesättigt hatte er noch Appetit auf
einen schmackhaften Nachtisch. Es konnte keine böse Überraschung mehr auf ihn zukommen.
Trotzdem war er dadurch, das ich die Mappe so laut wie möglich zugeschlagen hatte,
irritiert. "Nun, sind Sie immer noch der gleichen Meinung?" Es sprach nichts dagegen.
"Okay, ich bin froh, dass ich Ihnen diese kleine Abhandlung zu lesen gegeben habe.
Ich habe Sie schon eine ganze Weile beobachtet und bin dabei zu dem Urteil gekommen, dass
Sie ein ganz - wie sagt man - umgänglicher Mensch sind, der aufgrund seines Interesses
für Literatur auch solchen Gedanken gegenüber, wie ich sie zu äußern mich wagte,
empfänglich gibt. Wenn ich also nicht verrückt bin, wie ich denke, so frage ich mich, ob
Sie nicht in gleicher Weise nicht verrückt sind. Entschuldigen Sie diesen Ausdruck:
Verrückt! Aber nicht nur in der Umgangssprache nennt man seelisch bzw. psychisch
Erkrankte verrückt; selbst wir Ärzte hier sprechen, wenn auch mit vorgehaltener Hand,
von unseren Verrückten. Also: Bin ich nicht verrückt, sollten Sie es auch nicht sein.
Anfangs nannte ich Sie wohl fehlgeleitet. Wenn Sie also nicht verrückt sind, sich aber
trotzdem hier als Patient aufhalten, so hat das seine Ursache, die, um an meine
schriftliche Darlegung anzuknüpfen, in der Wahl des falschen Timings begründet liegt.
Ich darf das wohl so nennen. Nun, meine Betrachtungen sind längst nicht abgeschlossen. Ich wies ja bereits auf das
Unterthema Anzweiflung hin. Außerdem denke ich daran, das Ganze auch etwas mehr in die
Breite zu streuen. Aber zu breit auch nicht, dann wird es platt. Das will ich auf jeden
Fall vermeiden. Aber raten Sie mir doch! Sagen Sie, was Sie von dem Gedanken des richtigen
Timings halten." Ich dachte erst, dass er mich aussparen wolle. Nun musste ich also meinen Kommentar
abgeben. Ich begann vorsichtig: "Wie ich schon sagte, halte ich es für plausibel,
vernünftig, was Sie da schreiben. Der Gedanke des Timings ist wirklich nachvollziehbar.
Und wie Sie sagten, bin ich hier, weil ich es irgendwie falsch getimt hatte. Ich wollte
zuviel. Es überkam mich, wie soll ich sagen: exzessiv würden Sie es nennen. Da darf ich
mich über die Folgen nicht beklagen!" "Sehen Sie! Sie begreifen schnell. Falsches Timing - und alles ist im Eimer!" "Jawohl, Herr Doktor! Falsches Timing ...", wagte ich zu sagen und war damit
auch schon am Ende. Aber diese Bestätigung seiner Gedanken reichte völlig aus. Mehr
wollte er gar nicht von mir hören. Stattdessen griff er den Punkt mit der Anzweiflung
wieder auf: "Wir sollten lernen, öfter an uns zu zweifeln. Es muss nicht in Verzweiflung
ausarten. Bei Gott, nur das nicht. Wir müssen nur begreifen, dass wir nicht fest im
Sattel sitzen. Und das der Weg uneben ist. Haben wir das intus, dann finden wir geradezu
automatisch zum richtigen Timing. Ja, das ist es eigentlich: Der Anzweiflung kann nur das
richtige Timing folgen. Jetzt habe ich den Anknüpfungspunkt, der mir fehlte. Sie
entschuldigen mich, bitte. Den Gedanken muss ich unbedingt notieren, damit er mir nicht
verloren geht." Er riss mir die Mappe aus der Hand, nahm einen Kugelschreiber aus der Griffelschale, um
der Eingebung Herr zu werden. Er schrieb und schrieb, ich weiß nicht was. Urplötzlich
fühlte ich mich hier fehl am Platze. Wie man sich doch manchmal täuschen kann, dachte
ich nur noch, als ich mich leise aus dem Zimmer schlich. Falsches Timing war also Schuld
daran, dass ich in diesem Haus zwangsweise festgehalten wurde. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          | 11 Was Albus Vulcano betrifft, stellte ich mir gleich die Frage, was der Grund seines
Hierseins in diesem Irrenhaus sein könnte. Künstler werden meist für chaotisch, leicht
bis stark irre, wenn nicht gar für völlig abgedreht gehalten. Bei Albus kam da auch noch
die ausgeprägte Vulkanmanie hinzu, die sich überall zeigte. Als er seinen Job als
Bäcker kündigte, um als Albus Vulcano die Welt zu erobern, kam er mit dem neuen Namen in
diese Stadt. Am liebsten wäre er gleich wieder Richtung Island davon geflogen. Oder nach
Sizilien an den Ätna. Selbst an einen besinnlichen Ort irgendwo in der Eifel, als
ehemaliges, leider erloschenes Vulkangebiet, dachte er. Aber immer langsam, damit nichts
kaputt geht. So zog er in die Eifelstraße, das musste es mindestens sein (da es keine
Vulkanstraße, noch weniger eine Feuerbergstraße vor Ort gibt). Wie gesagt, Künstler gelten als irre. Aber da Wahnsinn und Genie dicht beieinander
liegen sollen, entscheidet man im Zweifelsfalle für den Angeklagten: also Genie!  Als Bäcker hatte Willi eine mehlweiße Weste-Bäckerjoppe. Als Künstler vermeint
Albus, sein Temperament ungestüm und heißblütig präsentieren zu müssen 
ähnlich seinen Vulkanen. Da er aber eigentlich ein eher schüchterner Charakter ist,
kostet es ihm immer wieder einige Überwindung, seine Wüsteneien bühnenreif zu
präsentieren. In Gesprächen dann gibt er sich eher zurückhaltend gesittet und zu
verstehen, dass ihm allein durch die Kunst die Sublimierung, also das Verfeinern seiner
dunklen Instinkte durch die klare Vergeistigung - so nennt er es -, gelungen sei. Er
versteht es dabei geschickt, immer wieder eine verdeckt-schattige Seite seines scheinbaren
Seins durchschimmern zu lassen. Alles bietet er quasi mit kultivierter Raffinesse dar.
Albus Vulcano liebt das Spiel. Und er spielt das ganze Repertoire von Komiker bis
Berserker mit allen ihm zur Verfügung stehenden theatralischen Mitteln herunter, um seine
Mitmenschen zu blenden. Wurde es zeitweise leise um ihn, so fand er zur rechten Zeit das
richtige Mittel, den rechten Weg, um wieder auf sich aufmerksam zu machen. Bei aller Cleverness trotz aller Exzesse ist er aber doch hier gelandet. Deutete sein
Publikum sein Genie zunehmend als Irrsinn? Nun, der Grund seines Hierseins liegt nicht
etwa in seinem Künstlertum, sondern in einer abseitigen Neigung, um es einmal so zu
nennen. Vor Monaten wurde in verschiedenen hochherrschaftlichen Häusern unseres Ortes
eingebrochen. Dabei wurde aber immer nichts gestohlen. Dafür hauste aber der Einbrecher,
denn inzwischen weiß man, dass es lediglich eine Person war, die die Häuser heimsuchte,
wie ein Wandale, indem er  es handelte sich um eine männliche Person, auch das
weiß man heute - Lebensmittel aller Art auf dem guten Perser im Wohnzimmer ausschüttete,
alles gut miteinander vermengte, um dann mit den im Hausflur gefundenen Hausschuhen des
Hausherrn in dem Gemenge aus Speisefetten, Zucker, Mehl und vielem mehr herumzuwaten.
Zuletzt stellte er die völlig verschmierten Schuhe zurück an ihren alten Platz. Viele
der heimkehrenden Heimbesitzer schlüpften meist ungesehen in die im Dunkeln stehenden
Latschen. Übrigens beschränkte sich der Wandalismus auf Wohnzimmer, Küche und Bad. Den
Hausflur ließ der Täter wie unberührt. Bei elektronischen Geräten ging der Übeltäter
sehr bedacht vor. Von dem zähen Brei, den er auf dem Wohnzimmerteppich angerührt hatte,
nahm er kleine Mengen, um sie in die sich öffnenden Laufwerke von CD-Spielern,
Videorekordern und kameras oder Computern tröpfeln zu lassen. Äußerlich wirkten
auch diese Geräte wie unbefleckt. Öffnete man sie aber, so quoll einem der matschige
Kuchenbrei entgegen. Es muss fast schon nicht erwähnt werden: Aber der Einbrecher war kein anderer als
unser Albus Vulcano. Er fand ein geradezu mörderisches Vergnügen daran, die Häuser
hochgestellter Persönlichkeiten, gegen die er eine Aversion hegte, auf diese Weise zu
besuchen. Natürlich wusste er im Vorhinein, dass während seiner Stippvisite mit keiner
Störung zu rechnen war, da alle Anwohner verreist waren und auch kein Hauspersonal sein
Tun behindern würde. Den leer geräumten Kühlschrank füllte er übrigens mit einem Teller randvoll
gefüllt mit seinen Exkrementen. Das Badezimmer musste unter Schmiereien leiden, für die
er das gleiche Werkmaterial benutzte. Der eigentliche Clou aber kam erste Tage, gar Wochen später heraus, wenn man Filme aus
der unversehrt gebliebenen Fotokamera zum Entwickeln brachte oder sich den mit der ebenso
unbeschädigten Videokamera aufgenommenen Film anguckte. Da gab es Bilder von einem
behaarten, also eindeutig männlichen, Hinterteil. Und in dem Anus steckten die
Zahnbürsten der Hausbewohner. Ich höre regelrecht das Würgen, das den Betrachter der Bilder in dem Bewusstsein
überkommen musste, sich noch wochenlang danach die Zähne mit der auf dem Foto
abgebildeten Zahnbürste geputzt zu haben. Albus Vulcano würde wohl noch heute sein Unwesen treiben, wenn ihm nicht seine
künstlerische Ader zum Verhängnis geworden wäre. Irgendwie versteht er noch heute sein
Tun, das andere lediglich als Wandalismus definieren können, als eine Art
Gesamtkunstwerk. Und dem Künstler ist zu eigen, sein Kunstwerk zu signieren. "Natürlich war es bodenlose Dummheit, meine Initialen an den Fliesen des
Badezimmers zu hinterlassen. Aber immer, wenn man einmal etwas anders macht als zuvor,
dann hat das seinen Grund", meinte Albus-Willi. "Ich denke, ich wollte entdeckt
werden!" Und so befindet er sich nun wie ich in der geschlossenen Abteilung, um sich
auf seinen Geisteszustand untersuchen zu lassen. Angesichts des Schadens, den er
angerichtet haben soll, wäre es fast besser, man bestritte sein Genie zugunsten
allgemeinen Irreseins. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    | 
        
          | 12 Ich muss meinen "anderen" Herrn Doktor, den mit seinem Timing, Gerechtigkeit
zukommen lassen: Noch am gleichen Tag sprach er mich an und entschuldigte sich dafür,
dass er mich "so einfach hat sitzen lassen".  "Aber plötzlich hatte ich die Verbindung meiner beiden Gedanken, nämlich den des
Timings und den der Anzweiflung. Lange hatte ich schon überlegt, wie ich beides
miteinander verknüpfen könnte. Denn das beides zusammengehört, davon war ich
ausgegangen. Dank des Gesprächs mit Ihnen ist es mir jetzt geglückt. Wenn Sie möchten,
dann können Sie es gern nachlesen." Und da ich nicht nein sagen konnte und es mich auch aufrichtig interessierte, was er da
geschrieben hatte, bekundete ich meine entsprechende Wissbegierde. "Wir sollten überhaupt öfter miteinander reden. Ich denke, solche offenen
Gespräche befruchten uns gegenseitig. Nehmen Sie das nicht zu wörtlich; sie wissen schon
wie ich es meine." Und so gab er mir die Ergänzung zu seinem Timing-Manuskript. Ein anderer Gedanke soll eingeführt sein, der
Gedanke der Anzweiflung. Wir sollten lernen, uns öfter anzuzweifeln. Es muss nicht in
Verzweiflung ausarten. Nur das nicht, denn es wäre der Exzess im negativen Sinne. Wir
müssen nur begreifen, dass wir nicht fest im Sattel sitzen. Und das der Weg uneben ist.
Haben wir das begriffen, dann finden wir geradezu automatisch zum richtigen Timing. Eben
durch die Anzweiflung wird der Weg frei. Das sind die Schritte: - Wir stellen uns selbst in Frage (Anzweiflung)- Wir finden das richtige Timing durch erlangtes Wissen
 - Wir finden den richtigen Weg (Der Weg ist das Ziel)
 - Wir erreichen ein erhöhtes Lebensgefühl in Ruhe, Ausdauer und Frieden
 AUF DEM UNEBENEN WEG MIT RICHTIGEM
TIMING IST DAS ZIELDER INNERE FRIEDEN!
 Der innere Frieden, das
Mit-sich-selbst-Übereinstimmen, die Ruhe - es klingt nach Ende, Ziel, Punkt-um. Aber in
Sinne des Vorhergehenden kann es jetzt nur noch als ein Fluss aufgefasst werden. Nichts
ist mehr starr, nichts ist mehr fest oder gar leblos. Und da es nicht starr ist, ist es
auch nicht dogmatisch. Keine Doktrin. Kein Fanatismus. Deshalb ist es schon zuviel, von
einer Lehre des richtigen TEA zu sprechen. Daher auch keine Apologetik, da es nichts zu
rechtfertigen oder zu verteidigen gibt. Eher ist es ein Naturgesetz wie das Fließen des
Flusses Naturgesetz ist. Das war es also. Als ich es gelesen hatte, gab ich das Manuskript
zurück. Er fragte erst gar nicht, wie ich es fände. Er nahm wohl an, dass ich es genauso
gutheiße wie das bereits Verfasste. Er nahm die Mappe und machte sich auf den Weg,
drehte sich noch einmal um, nickte mit dem Kopf, ein Lächeln im Gesicht und verschwand. Da mein Herr Doktor zum nächsten therapeutischen Gespräch wieder halbwegs
gesundet war, sprach ich mit dem anderen kein weiteres Wort mehr. Somit musste ich auch
nicht weiter auf sein Angebot der gegenseitigen Befruchtung eingehen. Durch Zufall entdeckte ich Tage später den Timing-Text zusammengeknüllt in einem
Papierkorb des Aufenthaltraumes des Pflegepersonals. |  | 
  
    | 
  [Zurück zum Anfang der Seite]
     | 
  
    |  |   [Hintergrundmusik:
    'In the Pay of Spain' von Ian Anderson (Jethro Tull)
    von der CD: "Divinities - Twelve Dances with God" - 1995]
 | 
  
    |  |   |